Thomas Koppe, Uwe Preuße, Jochen Fanghänel
3. Curriculum Anatomie und Schmerz
Greifswald vom 31.08. bis 02.09.2000

Im altehrwürdigen Institut für Anatomie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität fand die jährlich organisierte Fortbildungsveranstaltung für schmerztherapeutisch interessierte Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen unter der wissenschaftlichen Leitung von U. Preuße (Essen) und J. Fanghänel (Greifswald) statt.

Thema des 3. Curriculums waren Schmerzen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule bzw. in angrenzenden Regionen. Wie in den Vorjahren wurden anhand von Vorträgen, Diskussionsrunden, visualisierende Übungen in vivo und - dem Titel der Veranstaltung entsprechend – durch Präparierübungen und Demonstrationen an Leichen oder speziellen Präparaten potentielle Entstehungsursachen von akuten und chronischen Schmerzen erörtert.

Einleitend erläuterte J. Fanghänel (Greifswald) das Phänomen des Schmerzes aus morphologischer Sicht. Die Schmerzleitung stellt ein polysynaptisch-neuronales System auf verschiedenen Ebenen dar. Nozizeptive Afferenzen (Nervenendigungen von A d- und C-Fasern) aus dem Thorax- und Halsbereich wie Muskeln mit Faszien, Bänder, Organe, aber auch Pleura, Perikard und Rückenmarkshäute werden über Schmerzfasern in peripheren Nerven über die Radix posterior ins Rückenmark – und weiter über Interneurone und den Tractus spinothalamicus zum Thalamus zugeleitet. Von hier aus gelangen sie indirekt oder direkt über Bahnsysteme zur zentralen Verarbeitung zum sensorischen Kortex, Limbischen System (Emotion; Angst verstärkt den Schmerz!) und Hirnstamm. Ein deszendierendes endogenes Schmerzhemmungssystem (Analgesie-System) kann für zukünftige Therapiekonzepte Bedeutung erlangen. Neurowissenschaftliche Untersuchungen (H. Flor, Mannheim) haben gezeigt, dass die primären sensorischen und motorischen Areale des Kortex plastisch sind und sich durch Verletzungen und Lernprozesse verändern. Bei chronischen Rückenschmerzen findet sich z. B. eine Ausweitung der Repräsentation des Rückenmarks im primären sensorischen Kortex und führt so zu einer Verstärkung des Schmerzgedächtnisses.

Gerade im Hals/Thorax-Bereich gibt es zahlreiche Entstehungsmöglichkeiten für Entrapment-Syndrome mit einer daraus resultierenden neuralgieformen Beschwerdesymptomatik. So hat das Skalenus-Syndrom vielfältige Ursachen: Halsrippen; Plexus und A. subclavia gegen M. scalenus ant. gedrängt; M. scalenus ant.;Plexus und A. subclavia gegen 1. Rippe gedrängt; Angulation des Plexus brachialis; scharfe, sichelförmige Insertion des M. scalenus ant.;weit nach medial reichender Ansatz des M. scalenus med.; Vorkommen eines M. scalenus minimus; interhiatale Muskelfaserbündel; diverse Ursprungszacken der Scaleni; zusätzliche Arterien (A. transversa colli, Truncus costocervicalis ® A. cervicalis profunda, A. intercostalis suprema); arteriosklerotische Veränderungen derselben.

Das Thoracicoutlet-Syndrom äußert sich durch Kompressionen in der hinteren Skalenuslücke, im Kostoklavikularspalt sowie im Korakopektoralraum. Die ursächlichen Engpaßverhältnisse können auch hier vielfältig sein. Knöcherne Raumbeengungen (Costae cervicales und Costa prima), raumbeengende Bänder sowie Variationsmöglichkeiten der A. subclavia und der Skalenuslücke sollten Grundlage differentialdiagnostischer Überlegungen sein.

Gegenstand einer ausgiebigen Diskussion mit dem Auditorium war die Bedeutung von Faszien in der Pathomorphogenese chronischer Schmerzen. Die nozizeptive Bedeutung liegt darin begründet, dass wir im Bindegewebe der Faszie, vor allem am Ursprung und Ansatz der Muskulatur, sensible Nervenendigungen finden. Möglicherweise kann auch das Scherengitter des Bindegewebsskeletts ursächlich an mechanischen (neuralgischen) Reizungen der Nerven beteiligt sein, so wie wir das bei verschiedenen Schmerzsyndromen vorfinden (J. Fanghänel, Greifswald). Alltägliches Problem ist, dass Faszien nicht bildgebenden Verfahren zugänglich sind, jedoch eine Reihe von ungeklärten Schmerzphänomenen erklären lassen. Um so notwendiger erscheint aus dieser Situation die explizite Aufarbeitung dieser anatomischer Grundlagen.

Die komplexen topographischen Verhältnisse zwischen Thorax und Brustwirbelsäule (BWS) zeigen, dass degenerative, entzündliche und sonstige Erkrankungen der BWS, aber auch mechanische Überbelastungen oder psychische Faktoren in sehr unterschiedlicher Weise als Lokal - oder Fernsymptome in Erscheinung treten können. Neben Erkrankungen der BWS selbst, können in ähnlicher Weise Prozesse an inneren Organen zu verschieden Symptomen in der Region der BWS führen. In diesem Zusammenhang wurden von Th. Koppe (Greifswald) klinisch relevante topographische Situationen im Thoraxbereich herausgearbeitet. Da die Thoraxorgane, trotz einer gewissen Verschieblichkeit, in einer relativ stabilen Lagebeziehung zur Wirbelsäule stehen, eignet sich die BWS als Orientierungshilfe für die Lagebestimmung verschiedener Organe. Wichtig sind die Nachbarschaftsbeziehungen viszeraler und parietaler Strukturen, komplementiert durch die Nähe zum Grenzstrang und zum Sympatikus. Da die Brustwirbelsäule de facto der Hauptrepräsentationsort sympathischer Dysfunktionen sein kann, erklären sich eine Reihe thorakaler Schmerzen, welche über den Sympatikus getriggert, ursächlich andernorts verifiziert werden müssen. Auf diese praxisrelevante, anatomische Verschaltungsmöglichkeit verweist Krempien (Neubrandenburg) in seiner retrospektiven Betrachtung thorakaler Schmerzphänomene aus der Sicht einer algesiologischen Schwerpunktpraxis.

Das Zwerchfell ist in unserer Vorstellung häufig nur Gegenstand pulmologischer Untersuchungen. J. Buchmann (Rostock) verweist auf die Bedeutung des Zwerchfells innerhalb der morphologisch – funktionellen Querstrukturen in unserem Körper: Füsse, Beckenboden, obere Thoraxapertur und Tentorrium cerebelli.

Entwicklungsgeschichtlich stammt dieser eigentümliche Muskel aus der primären Halsmuskulatur. Veränderungen der Zwerchfelltätigkeit ziehen vielfältige Phänomene nach sich. Biomechanisch kommt es zur Beeinflussung der Rumpforgane, über die Crus zur möglichen Fixation der Psoasarkade und der oberen Anteile des Plexus lumbalis. Neurophysiologisch lassen sich über den N. phrenicus Veränderungen in den Segmente C3 / C4 und auf Strukturen der Schulter erklären.

Bandscheibenvorfälle und Schleudertraumen können nur durch eindeutige Kenntnisse anatomischer Grundlagen erklärt werden (I. Paul, Greifswald). In den Wirbelbogengelenken (Facettengelenken) der mittleren und unteren Halswirbelsäule (und in den seitlichen Atlantoaxialgelenken) treten sogenannte meniskoide Synovialfalten auf , die nahezu immer aus gefäßreichem, lockeren Bindegewebe bestehen. Sie können so groß werden, dass sie als Disci articulares imponieren. Sie sind nicht geeignet, einen Gelenkdruck aufzunehmen. Quetschungen der Falten können die Nerven der Gelenke irritieren, ebenso Dehnungen der Gelenkkapsel oder arthrotische Veränderungen im Kapselbereich. Die Innervation der Facettengelenke erfolgt durch Zweige der Rami dorsales der Spinalnerven, wobei jedes Gelenk Äste von zwei aufeinanderfolgenden Spinalnerven erhält. Bei der „facet denervation“ müssen daher 2 Nerven aus benachbarten Segmenten unterbrochen werden, um Schmerzfreiheit zu erreichen.

Bemerkenswerte Beziehungen bestehen zwischen dem Duraschlauch des Rückenmarkes und Bindegewebsstrukturen des Hinterhauptes sowie des zervikalen Vertebralkanals. Die Dura ist hier (ebenso wie am kaudalen, sakralen Ende) außerordentlich kräftig befestigt, wodurch ein großer Teil des Längszuges aufgefangen wird. Epidurale Verstärkungsbänder ziehen aufsteigend vom dorsalen Umfang des Duraschlauches zum Periost an der Außenfläche des Os occipitale (hinter dem Hinterhauptsloch), zum Periost des hinteren Atlasbogens und des Wirbelbogens des Axis. Ventral bestehen sehr kurze Faserverbindungen zur Membrana tectoria, d. h. dem kranialen Abschnitt des Ligamentum longitudinale posterius, welches an der vorderen Umrandung des Hinterhauptsloches beginnend, über die Hinterfläche der Wirbelkörper bis in den Sakralkanal hinein verläuft und hinter den Drehwirbeln (zusammen mit anderen Bändern) den Axiszahn sichert.

Nach J. Machetanz (Greifswald) tritt im klassischen Fall das Schleudertrauma mit einer passiven Extensions-Flexionsbewegung der Halswirbelsäule (HWS) auf. Die klinische und gutachterliche Behandlung des schweren Halswirbelschleudertraumas (HWSS) ist wenig strittig und orientiert sich an den allgemeinen Regeln für die einzelnen nachgewiesenen Ausfälle. Zu denken ist beim akuten HWSS immer auch an die Gefahr einer traumatischen Dissektion von Halsgefäßen, insbesondere der A. vertebralis. Eine solche Dissektion kann akut aber auch verzögert zu klinischen Symptomen in Form von zerebralen Durchblutungsstörungen führen.

Klinisch ist die Kombination von Nackenschmerzen mit Schwindel, Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen und anderen neurologischen Ausfallssymptomen wegweisend, wobei die große Ähnlichkeit mit den ohnehin bestehenden HWS-typischen Beschwerden eine qualifizierte fachärztliche Untersuchung nebst Zusatzdiagnostik (Doppler, ggf. angiographische Verfahren) häufig auch in der Akutphase notwendig macht. Selbst wenn nur ein leichtes oder mittelschweres HWSS (mit Standardverfahren nicht fassbare Läsionen) vorliegt, kommt es bei einer vergleichsweise großen Anzahl von Betroffenen zu einem Syndrom mit Kopf- und Nackenschmerzen, Konzentrationsstörungen usw., dessen pathophysiologische Basis nicht befriedigend geklärt ist. Dieses Syndrom wird zum Problem, wenn die Beschwerden nicht innerhalb weniger Wochen spontan abklingen, sondern in einen chronischen Verlauf übergehen.

Nach M. Graf (Trier) haben therapeutische Konzepte der Behandlung von HWS-Distorsionen von verschiedenen Prämissen auszugehen: Die Kenntnis der am Schmerzgeschehen beteiligten Rezeptoren, Bahnen und Hirnzentren ist Grundlage für Neuerungen in der Pharmakologie chronischer Schmerzzustände (B. Freitag, Rostock). Aktuell sind aus theoretischer und klinisch-praktischer Sicht nachstehende Ansatzpunkte erwähnenswert:
  1. Neue oder zusätzliche „targets“
    (Beispiel: periphere Opioidrezeptoren)
  2. Selektiver Angriff an alternativen biologischen Reaktionspartner oder definierten Arealen komplexer Rezeptoren
    (Beispiel: COX-2 – Inhibitoren)
  3. Strukturoptimierung von Pharmaka
    ( Beispiel: Beachtung der Stereoisometrie mit S-(+)-Ketamin, Dexketoprofen)
  4. Neue Substanzen, Galeniken und Applikationsformen
    (Beispiel: Oxycodon, TTS)
  5. Sinnvolle Kombinationen
    (Beispiel: Tilidin/ Naloxon)
U. Preuße (Essen) beleuchtete die Problematik der therapieresistenten, thorakalen Postzosterneuralgie. Ausgehend, von der Fragestellung ob mögliche, das Krankheitsbild summierende Ursachen diagnostisch erkennbar und nachfolgend therapeutisch nutzbar sind, ergab sich über die TCM ein Hinweis auf mögliche Hepatopathien.

In einer retrospektiven Untersuchung von thorakalen PZN ließ sich eine signifikante Häufung von nicht diagnostizierten Hepatitisinfektionen nachweisen, welche therapeutisch durch Coelicusblockaden und die orale Applikation von Antioxidantien hoch effizient beinflußbar waren.

Die Ausführungen wurden ergänzt durch Beiträge zur invasiven Schmerztherapie (Harke, Krefeld), Sympathikusblockaden (Diemer, Greifswald) sowie zu Problemen der Schmerztherapie an der Wirbelsäule (Fuchs, Köln; Gehling, Kassel) und berufspolitischen Aspekten zur Schmerztherapie aus der Sicht der Bundesärztekammer ( Crusius, Rostock).

Korrespondenzadresse:
Dr. med. U. Preuße
Hülsmannstr.6
D-45355 Essen
dr.preusse@ruhr-west.de