Kongressbericht 4. Curriculum "Anatomie und Schmerz" 06. -08.September 2001
U. Preuße, J. Fanghänel, TH. Koppe

 

Vom 06.bis 08. September trafen sich im Anatomischen Institut der Ernst- Moritz-Arndt Universität Greifswald schmerztherapeutisch interessierte Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen aus ganz Deutschland um gemeinsam funktionell – anatomische Grundlagen der oberen Extremität unter klinischen Gesichtspunkten aufzuarbeiten. Neben wissenschaftlichen Vorträgen zu Grundlagen der funktionellen Anatomie der oberen Extremität erhielten die Teilnehmer ebenfalls Hinweise auf Neuerungen innerhalb der Behandlung chronischer Schmerzpatienten. Ergänzt wurde dieses Veranstaltungskonzept durch nachmittägliche präparative und visualisierende Darstellungen.

Fanghänel und Preuße (Greifswald/Essen) verwiesen in ihrem Einführungsvortrag auf die vielfältigen Ursachen von Schmerzphänomene an der oberen Extremität hin. Auf Grund der anatomischen Strukturen kann es sich um Engpaßsyndrome (Kanäle, Faszien), Zustand nach Frakturen/ Luxationen oder auch Fehlbildungen, Durchblutungsstörungen und Bindegewebsreaktionen sowie rheumatoide Reaktionen handeln. Durch die embryologische Entwicklung der Gliedmaßen (Auswachsen der Extremitätenknospen, Vermischung des Nervenmaterials) ist eine streng segmentale Gliederung nicht gegeben, sondern es gilt den aus dem Plexus brachialis entspringenden Nerven Rechnung tragen. So ist die Kenntnis der Innervationsmuster unbedingt notwendig. Die resultierenden Schmerzen können lokal oder fortgeleitet entsprechend der Nervenbahnen ausfallen.

Es gibt eine breite Palette und Möglichkeiten der Kompression des Plexus brachialis, z. B. die Thoracic outlet-Syndrome, ein Sammelbegriff für viele Möglichkeiten von Kompressionen an/ in der oberen Thoraxapertur. Dabei ist der Ort der Kompression unterschiedlich: Skalenuslücke (Halsrippensyndrom, Skalenus-anterior-Syndrom), Kostoklavikularspalt (Kostoklavikularsyndrom), Korakopektoralraum (Hyperabduktionssyndrom) sowie Processus coracoicleus des Schulterblattes (Subkorakoid-pektoralis minor-Syndrom).Funktionelle Veränderungen der oberen Thoraxapertur und die daraus resultierenden Entrepmentsyndrome sind nicht selten Folge einer diapragmalen Irritation.

Armplexuslähmungen und entsprechende Schmerzsensationen kommen vor nach Geburtstraumen, Unfällen, Röntgenbestrahlungen oder Lagerungsschäden im Zusammenhang mit operativen Interventionen. Wir unterscheiden dabei obere Plexuslähmung = Duchenne-Erb-Lähmung (C4 – C6), mittlere Plexuslähmung (C5 – C6), untere Plexuslähmung = Déjerine-Klumpke-Lähmung (C8 – Th1, evtl. C7).Im klinischen Alltag finden sich diese klassischen Lähmungsphänomene nur selten. In Analogie hierzu finden sich jedoch deutlich häufiger passagere Neuralgien, deren neurologische Zuordnung Grundlage der möglichen therapeutischen Interventionen ist.

Weiter zu differenzieren sind die Medianuskompression bei zu engem Pronatorkanal, die Beeinflussung des N. ulnaris im Canalis cubitalis sowie eine mögliche Kompression des N. radialis durch eine sog. Frohse- Arkade. Das Pronator teres-Syndrom und das Supinatortunnelsyndrom gehen mit Medianus- und Radialisschädigungen einher. Karpaltunnelsyndrom (und Guyon-Tunnel-Syndrom) ist das häufigste periphere Kompressionssyndrom, bedingt durch zahlreiche anatomische Besonderheiten (überzählige Sehnen und Muskelbäuche, atypische Korpalknochen und Gefäßverläufe), Frakturen, rheumatische Arthritis, Diabetes mellitus und Schwangerschaft.

Koppe (Greifswald) machte in seinen Ausführungen deutlich, dass das Schultergelenk eine außerordentlich hohe Beweglichkeit besitzt, welche mit einer ausgeprägten Stabilität kombiniert ist. Diese funktionell- anatomische Besonderheit wird zum einem durch die komplexen mit einander artikulierenden Komponenten: sternoclaviclavculäre, thoracoscapuläre, acromioclaviculäre und glenohumerale Gelenkbewegungen bedingt.

Die Stabilität des Schultergelenkes wird klassisch im Zusammenhang mit der Funktion der Muskeln der Rotatorenmanschette interpretiert. Zusätzlich wurde aber auch auf die Besonderheiten der Muskeln latissimus dorsi, subclavius, pectoralis minor und serratus anterior verwiesen. Ebenfalls von klinischer Bedeutung sind die unterschiedliche Faszienverhältnisse im Bereich der Schulter, welche durch direkte Verknüpfung mit der Scalenuslücke zu einer Irritation des Plexus cervikobrachialis führen können. Dieses Phänomen summiert sich durch die hohe nozizeptive Versorgung von Faszien.

J. Buchmann (Rostock) machte in seinen Ausführungen aufmerksam auf den Umstand, dass chronische Schmerzphänomene der Schulter- Arm Region in 80% der Fälle fortgeleitete Ursache in sich bergen. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Bedeutung der oberen Thoraxapertur. Bildhaft vergleichbar mit einem Tor, kann diese Engstelle in distaler Richtung arteriellen Blutstrom und motorische Nervenbahnen sowie in proximaler Richtung venösen und lymphatischen Abfluss und sensiblen Nervenleitungen beeinflussen. Klinische Phänomene wie beispielweise eine blande Hypoxämie der oberen Extremität haben ihren Ursprung in der oberen Thoraxapertur. Weitere klinische Folgen ergeben sich am Karpaltunnel, an der Extensionsmuskulatur von Finger und Hand sowie am Gleitlager der sogenannten Rotatorenmanschette des Oberarmes.

Liebschner (Schwerin) verwies in seinen Ausführungen auf die vielfältigen Irritations- und/ oder Kompressionsmöglichkeiten des Plexus brachialis. Zu beachten sind neben den Foramina intervertebralis, der Verlauf zwischen den Mm. intertranversarii und den Querfortsätzen sowie der Durchtritt durch die Mm. scalenii, die costoclaviculäre Enge und die Region unterhalb der Sehne des M. pectoralis minor am Processus coracoideus. Beim Aufbau des Plexus brachialis verflechten sich in der 5. Schwangerschaftswoche Fasern aus den Ventralästen mehrerer Spinalnerven(aus den Segmenten C5- Th 1) zu Trunci und Fasciculi, von denen dann periphere Plexusäste (mit Fasern aus mehreren Radices!!!) abzweigen. Darauf machte Paul (Greifswald) in seinen Ausführungen zur funktionellen Embryologie aufmerksam.

Im klinischen Alltag werden die Muskeln trapezius und sternocleidomastoideus häufig als sogenannten Stressmuskeln bezeichnet. Trotz unterschiedlicher therapeutischer Interventionen lassen sich manifeste Funktionspathologien beider Muskeln und deren funktionell- anatomische Folgen kaum durchbrechen. Auffallend für beide Muskeln ist die gemeinsame nervale Innervation über den N. accessorius. Dieser ist Teil des Nucleus ambiguus. Ebenfalls Teil des Ambiguus- Komplex ist der N. vagus. Aus dieser anatomisch existierenden Verknüpfung wird verständlich, das jegliche Irritation des N. vagus in seinem Verlauf eine Irritation des N. accessorius und seiner innervierten Muskeln hervorrufen kann (Fanghänel).

Auch in diesem Jahr wurden durch unterschiedliche Fachvertreter diagnostische und therapeutische Lösungsansätze zu klinisch relevanten Problemfeldern vorgestellt. Neben dem Karpaltunnelsyndrom wurden die differenzierten Überlegungen zur Epicondylopathie vorgetragen. Neben bekannten anatomischen und neurologischen Grundlagen weckte Ridder (Merzhausen) das Interesses des Auditorium auf eher "atypische" Ursachen, welche nach Versagen klassischer Therapiemaßnahmen Eingang in weiterführende diagnostische Überlegungen finden sollte. Aus der Kenntnis der manuellen Medizin, der Osteopathie sowie der Applied Kinesiology machte Ridder für eine therapieresistente Epicondylopathie neben der Blockierung der 1. Rippe, einer allgemeiner Hyperreaktivität der Muskulatur auch mögliche Kollagensynthesestörungen bei Mangel an Vitamin C und Mangan für die Persistenz dieses Krankheitsbildes verantwortlich. Gleiches gilt für die Störung der Ileocoekalklappe und der Störung des kontralateralen Kniegelenkes im Sinne eines gekreuzten neurologischen Reflexmusters nach De Jamette.

In der Therapie des Karpaltunnelsyndrom stellte Schroeder (Greifswald) die endoskopische Spaltung des Retinaculum flexorum als eine neue therapeutische Intervention vor. Die Vorteile der endoskopischen Operation liegen in dem geringeren Trauma, der schnelleren Genesung und Wiedererlangung der Gebrauchsfähigkeit der Hand. Dieses Verfahren ist nicht für Rezidive geeignet. Ebenfalls bei technischen Problemen sowie anatomischen Besonderheiten muss die Operation nach wie vor offen durchgeführt werden. Beachtenswert jedoch ist der nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Faktor der endoskopischen Operationsvariante.

Ein weiterer Schwerpunkt der diesjährigen Veranstaltung waren unterschiedliche Ausführungen zur Vielfalt des rheumatischen Formenkreises. Giebel (Greifswald) verwies auf die unterschiedlichen morphologischen Korrelate. Keysser (Rostock) sieht im Mittelpunkt der Komplextherapie entzündlich- rheumatischer Erkrankungen die medikamentöse Behandlung.

"Goldstandard" ist die parenterale Gabe von Methotrexat (MTX). Durch die adjuvante Verordnung von Folsäure oder Fotinsäure reduziert sich signifikant die Rate unerwünschter Nebenwirkungen bei erhaltener Wirksamkeit von MTX. Seit Ende 1999 ist Leflunomid als neues Basistherapeutikum verfügbar. Aufgrund der Grundlagenforschung der letzten Jahre wurden monoklonale Antikörper gegen proinflammatorische Zytokine entwickelt. Die Substanzen Infliximab und Etanercept richten sich gegen den Tumornekrosefaktor Alpha und finden ihren Einsatz bei schweren therapieresistenten Fällen von Rheumatoid – Arthritis.

Nehen (Essen) berichte über neuste Untersuchungen zu möglichen Ursachen der Fibromyalgie. Diskutiert werden mitochondrale Störungen in der Muskulatur, Störungen des Serotonistoffwechsel. Ebenfalls fanden sich erhöhte Konzentrationen der Substanz P im Liquor sowie abnormale zentrale Verarbeitung von nozizeptive Reizen.

Abgerundet wurden die Vorträge zum Rheumatischen Formenkreis durch Beyer (Bad Liebenwerda), welcher am Beispiel des Morbus Bechterew den differentialtherapeutischen Ansatz von medikamentösen, nichtmedikamentösen und operativen Therapieverfahren und deren jeweilige Effizienz herausarbeitete.

Freitag (Rostock) verwies auf die medikamentösen Grundlagen in der Therapie neuropathischer Schmerzen. Die therapeutische Herausforderung ergibt sich bereits aus der Vielfalt der auslösenden Ereignisse, einer häufig voneinander abweichenden Phänomenologie und der nach wie vor bestehenden uneinheitlichen, terminologischen Zuordnung trotz aller Klassifizierungsversuche. Therapiestandards haben sich in den letzten Jahren in der medikamentösen Therapie von Neuropathien etabliert. Zukünftig gilt es die Wirksamkeit von Opioiden neu zu überdenken. Durch den medikamentösen Einsatz des Opioids Oxycodon ist es in groß angelegten Studie bei einer Vielzahl neuropathischer Krankheitsbilder zu einer längerwährenden Schmerzreduktion gekommen. Gabapentin als modernes Antikonvulsivum besitzt als einziges Medikament derzeitig die Zulassung in der Bundesrepublik zur Behandlung neuropathischer Schmerzsyndrome. Nach Erfolglosigkeit medikamentöser Therapiemaßnahmen stellt sich immer die Frage nach nichtmedikamentösen Behandlungsalternativen. Preuße (Essen) favorisiert nach einer funktionell-anatomischen und/oder neuro- anatomischen Diagnostik unter Einschluß aller miteinander kommunizierenden metameren Strukturen den Einsatz lokalanästhesiologischer Verfahren. Sofern möglich sollte dieses Konzept durch gezielte manualtherapeutische und osteopathische Behandlungstechniken ergänzt werden. Zukünftig gilt es zu klären, ob die häufig mit Neuropathien vergesellschaftete Hepathopathien Interesse für andere therapeutische Interventionen wecken.

Abgerundet wurde die Veranstaltung durch Vorstellungen zum Netzwerkgedanken (Stahl), die retrospektive Betrachtung chronischer Schmerzphänomene der oberen Extremität innerhalb einer Schmerzsprechstunde (Krempien/ Liebschner) sowie fakultative Einführungskurse zur Problematik neurologischer Untersuchungstechniken der oberen Extremität (Machetanz) und Injektionstechniken in der Rheumatologie(Bernateck).

 

Korrespondenzadresse:
Dr. med. U. Preuße
Hülsmannstr.6
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