Kongressbericht

6. Curriculum Anatomie und Schmerz Kopf-kraniale Nerven- (Teil 2) Übergangsregionen, 4.-6. September 2003 im Institut für Anatomie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Klinikum, Anstalt öffentlichen Rechts, Greifswald. Veranstalter: Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung, Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes.

Zum nunmehr 6. Mal fand im Institut für Anatomie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald das Curriculum Anatomie und Schmerz statt. Die 50 Teilnehmer hatten dabei die Möglichkeit in Vorträgen, seminaristischer Gruppenarbeit mit Darstellung funktioneller Untersuchungstechniken und in anatomisch-präparativen Übungen praktische Handfertigkeiten und Informationen zur Problematik des Kopfschmerzes zu erlangen. Neu waren in diesem Jahr Fallvorstellungen durch Schmerztherapeuten, die zusammen mit Anatomen durchgeführt wurden, um das potentielle morphologische Korrelat des Schmerzes zu erkennen.

Begrüßt wurden die Teilnehmer durch die Organisatoren und wissenschaftlichen Leiter Prof. Dr. J. Fanghänel, Direktor des Institutes für Anatomie und Dr. U. Preuße, Schmerztherapeut und Begründer des Curriculums. Außerdem wurden die Teilnehmer durch den Dekan der medizinischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Herrn Prof. Dr. H. Kroemer und den Ehrenpräsidenten der DAAF, Herrn Prof. Purschke (Dortmund) , begrüßt.

Prof. Fanghänel unterstrich die Interdisziplinität dieses Treffens aufgrund des Zusammenwirkens von Anatomen und schmerztherapeutisch interessierten Ärzten unterscheidlicher Fachrichtungen. Außerdem verwies er auf das gestiegene Interesse an dieser Veranstaltung, die im Anatomischen Institut exzellente Bedingungen vorfindet. Der Dekan der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, seines Zeichens Pharmakologe, verwies auf neue pharmakologische Eingriffsmöglichkeiten zur Schmerztherapie und sprach von einem besser verstandenen Schmerzverständnis. Er wünschte den Teilnehmern fachlich spannende und ergiebige Tage in einen Institut, das eine Kombination von Historie und Moderne wie nur wenige Andere in Deutschland zu bieten hat. Dr. Preuße verband seine Begrüßung mit einem Rückblick auf das 5. Curriculum und erwähnte, daß einige Neuerungen wie die praxisorientierte seminaristische Arbeit oder die Untersuchungstechniken der Hirnnerven in das Programm aufgenommen wurden, auch aufgrund von Anregungen der letztjährigen Teilnehmer. Es wurde die Bedeutung anatomischer Kenntnisse und anatomischer Verschaltungsmöglichkeiten bei Schmerzphänomenen betont. In diesem Kontext wies Dr. Preuße auf einen Mangel insbesondere an Nachwuchsanatomen an deutschen Universitäten hin und betonte nochmals, daß die Anatomie die Grundlage der ärztlichen Tätigkeit und vieler Erkrankungen, nicht zuletzt chronischer Schmerzen, darstellt. So leidet jeder zehnte Deutsche unter Migräne, und von Spannungskopfschmerzen sind ca. 30% der Deutschen gepeinigt. Bei den Kopfschmerzen unterscheidet die WHO mittlerweile ca. 150 verschiedene Formen, und in der EU belaufen sich die durch Kopfschmerzen verursachten Kosten auf ca. 20 Mrd. Euro/Jahr. Bei diesen Zahlen ist besonders bedauerlich, daß viele Patienten gar keinen Arzt aufsuchen, da sie glauben, ihnen könne sowieso nicht geholfen werden. Des weiteren werden 30% der Nierendialyseschäden durch Analgetika hervorgerufen. Vor diesem Hintergrund betonte Herr Preuße, dass eine Verbindung von Schulmedizin und alternativen Verfahren dringend erforderlich ist und zu einer verbesserten Versorgung der Schmerzpatienten führen wird. In seiner Begrüßung sprach Prof. Purschke davon, daß das erste Symposium große organisatorische Schwierigkeiten bereitete und nicht damit gerechnet werden konnte, daß das Curriculum so erfolgreich ist. Das Curriculum Anatomie und Schmerz war das erste seiner Art, und es hat mittlerweile eine Reihe Nachahmer gefunden.

Dr. Theurer (Greifswald) referierte zum Thema „Kopf- und Gesichtsschmerz – schmerztherapeutische Fragestellungen“. Wichtig für die Schmerztherapie ist u.a., was die Patienten von der Behandlung erwarten. Eine sehr sorgfältige Anamnese ist erforderlich. Viele der Patienten experimentieren mittels Selbstmedikation, und Schmerzen haben häufig mit der Psyche und dem soziokulturellen Kontext zu tun. So steigt die Anzahl der Schmerzpatienten stetig an, was das endemisches Anwachsen algesiologischer Praxen zur Folge hat.

Hinderlich in der Schmerzbehandlung ist ein Dschungel aus Leitlinien und Therapieempfehlungen verschiedener Gesellschaften. So werden häufig in der Therapie eingesetzte Verfahren wie Akupunktur, autogenes Training oder auch Neuraltherapie von der Deutschen Arzneimittelkommission als unwirksam eingestuft.

 

Dr. Giebel (Greifswald) schilderte die Anatomie der Orbita. Diese ist eine 4-seitige knöcherne Pyramide, deren Spitze mit dem Canalis opticus zur mittleren Schädelgrube zeigt. Inhalte der Orbita sind die Tränendrüse, der Augapfel, Augenmuskeln, Blutgefäße, Nerven, ein retrobulbärer Fettkörper und Baufett. Die mediale Wand ist sehr dünn (früher Lamina papyracea) und grenzt an die Siebbeinzellen. Weitere topografische Beziehungen bestehen zur Kieferhöhle, Stirnhöhle, Keilbeinhöhle (vor allem durch den N. opticus in seinem Kanal) und der vorderen Schädelgrube. Verbindungen der Venen bestehen zwischen der V. ophthalmica superior über den medialen Augenwinkel (zur V. angularis) sowie zum Sinus cavernosus, in den sie mündet, und über die V. ophthalmica inferior zum Plexus pterygoideus in der Fossa infratemporalis. Der Sinus cavernosus ist für die Orbita außerdem von Bedeutung, da durch ihn die Nerven III, IV, V1, (V2) und VI verlaufen, sowie die A. carotis interna, die die A. ophthalmica zur Augenhöhle abgibt. Nachbarschaftsbeziehungen bestehen auch zur Dura mater, die sich als Diaphragma sellae aufspannt und auch den N. opticus in der Orbita umhüllt. Wichtig ist auch die Kenntnis der sympathischen Versorgung des Augapfels (M. dilatator pupillae, M. tarsalis sup.), die über das obere Halsganglion erfolgt

Abbildung 1
Abb. 1: Lagebeziehungen der Hypophyse, Keilbeinhöhle, A. carotis interna und Chiasma opticum zum Sinus cavernosus (aus Sobotta, 1993)

(Ganglion cervicale superius), das die Fasern über das Ganglion stellatum (Segmente C8-Th2) erhält.

 

In seinem Vortrag über den unklaren Augenschmerz stellte Prof. Tost (Greifswald) zuerst den komplexen Rezeptorapparat von Kornea und Konjunctiva vor, die die höchste Innervationsdichte aller Augengewebe aufweisen und von denen häufig Beschwerden ausgehen (auch chronischer Art). Augenschmerzen werden in 4 Kategorien eingeteilt: 1) reizfreies, gesundes Auge; 2) Entzündung des Auges; 3) Schmerz im Kopfbereich mit Augenbeteiligung; 4) hirnorganische Erkrankungen. Die Störungen können hervorgerufen werden durch Benetzungsstörungen oder falsch zentrierte Brillen (1), Sinusitis, Glaukom, Trauma, Keratitis (2), oder durch erhöhten Liquordruck, der einen Einfluß auf die Opticus-Papille hat und auch zur Atrophie am Sehnervenkopf führt (3, 4).

Dr. Koppe (Greifswald) erklärte ausführlich die Anatomie der Nase. Phylogenetisch ist die menschliche Nase einzigartig, da sie hoch und schlank gestaltet ist und die Öffnungen nach unten gerichtet und nur noch 3 Muscheln vorhanden sind. Bei Nicht-Primaten dagegen ist die Nase flach, sehr lang und enthält viele Muscheln. Die Nase ist bei weitem nicht nur ein Riechorgan, sondern dient auch zur Konditionierung der Atemluft und zur Ausscheidung. Direkte Beziehung zur Nase haben die Nasennebenhöhlen. Ihre Funktion wird immer noch kontrovers diskutiert. Sie sollen das Schädelgewicht verringern, die Atemluft konditionieren oder auch zur Rahmenkonstruktion des Schädels beitragen. Die Schleimhaut der Nasennebenhöhlen besitzt einen genauso hohen Gefäßreichtum wie die Nase und ist in der Lage, Stickstoffmonoxid (NO) zu synthetisieren, was hormonähnliche Wirkungen hat. Bei den Siebbeinzellen handelt es sich um pneumatisierte Muscheln. Nasennebenhöhlen können unterschiedlich groß und auch durch Septen gekammert sein. Besonders wichtig sind die Nachbarschaftsbeziehungen von Kieferhöhle und 1./2. Molaren, den Siebbeinzellen und der Orbita, sowie der Keilbeinhöhle und dem Sinus cavernosus.

Abbildung 2AAbbildung 2B
Abb. 2: A: Inhalt der Orbita und topografische Beziehung zur mittleren Schädelgrube (Chiasma opticum, Sinus cavernosus) (aus Pernkopf, 1989). B: Topografische Beziehung der Orbita zum Sinus frontalis, Sinus maxillaris und den Cellulae ethmoidales (aus Moore, 1999)

 

Dr. Preuße gab in seinem Vortrag „Ernährung und Schmerz“ einen ganzheitlichen Ansatz zur Ursachenfindung von Schmerzphänomenen. Diese ist besonders wichtig, wenn keine klare Diagnose gestellt werden kann. Statistisch gesehen herrscht in Deutschland ein sehr hoher Krankenstand, die Zahl allergischer Erkrankungen nimmt stetig zu, und ca. 11 Millionen Deutsche sind chronisch schmerzkrank. Falsche Ernährung kann die zunehmenden toxischen Belastungen des Körpers hervorrufen. So werden vielen Nahrungsmitteln Geschmacksstoffe zugesetzt, die zur Stoffgruppe der Zucker gehören und über eine Rückkopplung mit der Hypophyse Hungergefühle bewirken. Durch ständigen Genuß von Nahrungsmitteln mit einem hohen glykämischen Index (Zucker, Honig, Gummibärchen, Grieß, Stärke, Weißmehl, Kartoffeln, Nudeln, Schokolade) kommt es zur erhöhten Insulinproduktion, um den Blutzuckerspiegel niedrig zu halten. Die Insulinproduktion wiederum führt zur vermehrten Cholesterinbildung. Durch eine ständige Insulinausschüttung kommt es zur Hypoglykämie, die von Symptomen wie Kopfschmerz, Heuschnupfen, Rückenschmerzen oder auch Phobien begleitet sein kann. Dr. Preuße wies darauf hin, daß die Italiener die kränkeste Nation in Europa darstellen, was nicht zuletzt auf einen hohen Zuckergenuß in den Abendstunden beruht. Ein ägyptisches Sprichwort sagt „der Tod liegt im Darm“. Bei falscher Ernährung entstehen massiv gasgefüllten Gedärme, die in sog. Gasbäuchen resultieren, von denen viele Typen bekannt sind. Wichtig ist auch zu wissen, daß solche Bauchveränderungen von einer Tonusänderung der Mm. erector spinae sowie der Bauchwandmuskeln begleitet sein können, die morphologisch sehr auffällig sind und zu einer schlaffen Haltung führen. Durch Zucker und nicht zuletzt durch Medikamenteneinnahme befindet sich bei vielen Patienten die Leber im Dauerstress. So berichtet Preuße, daß die Patienten, die seine Praxis aufsuchen, durchschnittlich 13,7 Medikamente am Tag zu sich nehmen. Dadurch befindet sich die Leber, die über 600 verschiedene Funktionen ausübt, im Dauerstress. Auch das abendliche Essen führt neben einer massiven Leberbelastung zu einer schlechten Verdauung, dadurch Schonhaltung der Bauchmuskulatur und Zwerchfellhochstand. Neben der Leberbelastung wurden die Folgen von zu geringer Flüssigkeitsaufnahme geschildert. So führt der Verlust von 1,2 Liter Flüssigkeit bei einer 60 kg schweren Person zu einer um 20% verringerten Muskelkraft. Um solche und andere Folgen zu vermeiden, sollten täglich mindestens 4,2 Liter Flüssigkeit getrunken werden, die für die Funktionen von Darm (2,4 l), Niere (1-1,4 l) und Lunge (0, 8 l) essentiell sind.

Abbildung 3
Abb. 3: Lagebeziehung des Thalamus (aus Wolf-Heidegger, 2000)

 

Frau Dr. Rumpel (Greifswald) schilderte die Rolle des Thalamus bei der Schmerzwahrnehmung. Beim Schmerzerlebnis werden sensorisch diskriminative, affektive, motorische, vegetative und kognitiv bewertende Komponenten unterschieden. Der Thalamus ist ein Kerngebiet im Zwischenhirn, das den 3. Ventrikel begrenzt. Im Thalamus finden sich Kernkomplexe, die durch sagittal verlaufende Marklamellen voneinander getrennt sind. Nozizeptive Informationen erhält der Thalamus über den Tractus spinothalamicus und den Tractus trigeminothalamicus. Außer diesen Afferenzen führen Bahnen aus den Eingeweiden zu den lateralen Kernen (laterales Schmerzsystem). Zu den medial gelegenen Thalamuskernen gelangen Informationen aus dem Rückenmark (Tractus spinothalamicus) und über Kerne des Rauten- und Mittelhirns (Tractus spinoreticularis et spinomesencephalicus). Das mediale Schmerzsystem ist für emotionale und vegetative Reaktionen auf Schmerz zuständig. Alle Thalamuskerne stehen unter der Kontrolle des Kortex. Bei der Hypnose findet sich ein Aktivitätsverlust der Hirnrinde, aber nicht des Thalamus. Der Thalamus ist eine Relais-Station für sämtliche Schmerzinformationen auf ihrem Weg zum Kortex. Unter Beteiligung von verschiedenen Neuronenkomplexen (Hinterhorn, Hirnstamm) entscheidet er, welche Impulse den Kortex erreichen und somit bewußt werden. Da unterschiedliche Thalamuskerne an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, führen Läsionen meist nicht zum völligen Schmerzverlust, sondern zu Störungen einzelner Komponenten.

Dr. Kaftan (Greifswald) berichtete über die therapieresistente Otalgie, die nicht nur ein HNO-ärztliches Problem darstellt. Otalgie steht dabei für Schmerzen, die zwar in das Ohr projiziert werden, aber oft nicht dort ihren Ursprung haben. Ohrenschmerzen sind vielfältig und betreffen das äußere Ohr mit dem äußeren Gehörgang (Gehörgangsfurunkel, Fremdkörper, Trauma, Hämangiom), das Mittelohr (Otitis media, Paukenerguß, bullöse Myringitis, Mastoiditis, otogene endokraniale Komplikationen, Tumoren, chronische Otitis media) sowie das Innenohr (Tumoren). Schwierig wird die Diagnosestellung besonders dann, wenn die mikroskopische Untersuchung des Ohres keinen Befund ergibt. In diesen Fällen müssen dann weiterführende Techniken (Spiegelung der tiefen Rachenabschnitte in Narkose, CT und MRT, um pathologische Prozesse z. B. in der Tiefe des Felsenbeins zu erkennen) angewandt werden. Andererseits können auch Erkrankungen des Kiefergelenks (z.B. Arthrosis deformans), der Halswirbelsäule oder Neuralgien (z. B. des N. auriculotemporalis) für Schmerzen im Ohr verantwortlich sein.

 

Prof. Buchmann (Rostock) unterstrich in seinem Vortrag „kraniomandibuläres, kraniozervikales und kraniosakrales System“ , dass die ganzheitheitliche Betrachtungsweise bei vielen Schmerzereignissen des Kopfes nicht außer acht gelassen werden kann. Über das kraniozervikale System (z.T. auch kraniothorakales System), zu dem myofasziale Strukturen wie die vordere Halsfaszie, infrahyale Muskeln, Pars descendens des M. trapezius, M. sternocleidomastoideus zählen, wird der Kopf mit Strukturen des Halses bzw. des oberen Thorax verbunden. Das kraniomandibuläre System ist am kraniozervikalen aufgehängt. Die Unterkieferbeweglichkeit gegenüber dem Schädel gewährleistet Funktionen wie das Halten, Reißen, Mahlen, Schlingen und die Feinmotorik des Sprechens. Alle von diesem System erzeugten Spannungen und Kräfte müssen am kraniozervikalen System abgefangen und neutralisiert werden. Der kraniosakrale Rhythmus bildet eine grundlegende Äußerung menschlichen Lebens. Er geht aus von der Synchondrosis sphenooccipitalis und zieht zum Os sacrum/bzw. Beckenkamm. Störungen dieses Systems können den Lebensrhythmus beeinträchtigen und sich in einem KISS-Syndrom (Kopfgelenk induzierte Symmetrie-Störung) manifestieren. So kann durch Manipulation am Sacrum ein Eingriff am Kopf bzw. an den Kopfgelenken erfolgen. Funktionelle Störungen in den Systemen sind somit nicht nur lokalisiert, sondern in ihrer gesamtsystemischen Bedeutung richtig einzuordnen und zu beeinflussen.

Prof. Kessler (Greifswald) referierte über den Clusterkopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz) und Sinus cavernosus. Der Clusterkopfschmerz ist ein streng einseitig auftretender seitenkonstanter Kopfschmerz, der in bis zu 8 Attacken täglich (auch aus dem Schlaf heraus) von 30-180 min periorbital , hinter der Orbita bzw. in der Orbita auftreten kann. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Als Auslöser sind häufig Alkohol oder bestimmte Medikamente (z.B. Histamin oder Nitroglycerin) bekannt. Da die Pathophysiologie des Clusterkopfschmerzes weitgehend unverstanden ist, sind gründliche differentialdiagnostische Untersuchungen (CTT, MRT) zum Ausschluß von raumfordernden Prozessen des Sinus cavernosus (Hypophysentumoren, Kavernosusthrombose, Aneurisma der A. carotis interna u.a.) und der Schädelbasis sowie von Nasen und Nasennebenhöhlenprozessen indiziert. Die Therapie besteht während der Attacke in Inhalation von reinem Sauerstoff (1. Wahl) oder der Einnahme von Triptanen, während einfache Analgetika, Carbamazepin, H1-Antagonisten als auch physikalische Therapie keine Wirkung zeigen. Mit oder ohne Therapie bleibt der Clusterkopfschmerz eine lebensbegleitende Funktionsstörung mit Anfallsperioden, die sich in Abständen von Jahren oder Monaten wiederholen.

Prof. Fanghänel sprach in seinem Übersichtsvortrag über die anatomischen Grundlagen von Neuralgien im Mund- und Gesichtsbereich. Der Kopf-Halsbereich weist eine große Anzahl von Nozizeptoren auf, die sich in den Hirnhäuten, Periost, Suturen, Bindegewebe, Weichteilen und den Organen befinden. Für die sensible Innervation des Kopfes sind der N. trigeminus (V), N. glossopharyngeus (IV), N. vagus (X), Äste des Plexus cervicalis sowie Spinalnervenäste verantwortlich. Die afferenten Fortsätze der Hirnnerven enden dabei größtenteils an einem Hirnnervenkern (kaudaler Teil des spinalen Trigeminuskerns, Pars caudalis). In diesem werden die Erregungen auf Interneurone (Schaltzellen) oder Strangzellen übertragen, deren afferente Fortsätze Bahnen (Tractus) bilden, die zum Thalamus führen. Im Thalamus erfolgt die Umschaltung auf dritte Neurone, die zu den Rindenzentren (somatosensorischer Kortex des Parietallappens, Gyrus postcentralis, zum präfrontalen Kortex des Frontallappens und zum limbischen System, Gyrus cinguli) ziehen. Aus anatomisch-topographischer Sicht gibt es viele kritische Strukturen, in denen Ursachen für Engpaßsyndrome, Neuralgien bzw. Schädigungen einiger Hirnnerven zu finden sind. Besonders interessant sind hier das Foramen jugulare (als Durchtritt für die Nerven IX, X und XI und die V. jugularis interna), der Sinus cavernosus, durch den die A. carotis interna verläuft (Aneurismen, Variationen im Verlauf) und an dessen dorsolateraler Wand das Ganglion trigeminale angelagert ist. Ebenso kann die okzipitozervikale Übergangsregion (akzessorische Knöchelchen in Atlas/Axis, Spaltbildungen) von großer Bedeutung sein.

Abbildung 4
Abb. 4: A: Verhältnisse der Dura mater am Schädel und an der Wirbelsäule. B: Versorgungsgebiet des N. trigeminus (aus Wolf-Heidegger, 2000)

 

Dr. Hintzmann (Berlin) schilderte die möglichen Folgen von Beschleunigungsverletzungen der HWS und Spätfolgen, die seit Jahren kontroverse Diskussionen über Diagnostik, Therapie, Begutachtung sowie juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Beschleunigungsverletzungen der HWS treten häufig bei Verkehrsunfällen auf. Frakturen sind selten, die Verletzungen der Weichteilstrukturen (Muskeln, Faszien, Dura) sind aber direkt diagnostisch schwer zugänglich. Hinweise auf Strukturläsionen (arthromuskuläre Dysfunktionen) sind aber durch manualmedizinische Diagnostik feststellbar. Obwohl die Mehrheit dieser Traumata innerhalb eines halben Jahres heilt, kommt es bei 10 – 30% der Patienten zur Chronifizierung mit unbefriedigendem Verlauf. Bei allen Verletzungen im Bereich der HWS sind folgende Ebenen zu beachten:

I. Strukturelle Ebene: Beim HWS-Trauma kommt es zur Überdehnung der Bänder des Kopfes, wobei die Kraft auch in den Schädel übertragen werden kann. Zu beachten ist auch, dass Frakturen oder Spalten erst nach mehreren Tagen sichtbar werden. Die Diagnostik dieser Schädigungen ist sehr umfangreich und beinhaltet traumatologisch/orthopädisch, neurologisch, bildgebende Verfahren, EMG u.a. Die Therapie erfolgt traumatologisch/ orthopädisch/schmerztherapeutisch/physiotherapeutisch.
II. Funktionelle Ebene: Jede Strukturläsion hinterläßt Funktionsstörungen, die sich in den Gelenken oder der Muskulatur oder als Gefäß- oder Steuerungsstörungen manifestieren kann. Als reflektorische Reaktion des HWS-Traumas kann darüber hinaus auch die Niere affektiert sein.
III. Psychische Ebene: Es kommt zu psychiatrischen Traumafolgen, direkten/indirekten Belastungsreaktionen, Hirnleistungsstörungen, die in Schock oder Angst resultieren und therapeutischer Behandlung bedürfen.
IV. Soziale Ebene: Aufgrund chronifizierter Beschwerden kann es zur Arbeitsunfähigkeit kommen. Da die Ursache dafür (HWS-Trauma) meist lange zurückliegt und selten eine klare Diagnose gestellt wurde, können sich jahrelange Streitigkeiten mit Versicherungen und Kostenträgern ergeben. Somit ist für die Behandlung solcher Patienten ein multimodales interdisziplinäres Konzept wünschenswert.

Prof. Fanghänel (Greifswald) und Dr. Liebschner (Schwerin) stellten den M. iliopsoas als Paradebeispiel für eine funktionell-anatomische Problemzone vor. Dieser Muskel besteht aus 2 Anteilen (M. iliacus, M. psoas major). Der M. psoas major (der in 30% der Fälle einen zusätzlichen schlanken Muskelteil, M. psoas minor, aufweist) kennzeichnet den thorakolumbalen Übergang, da er sowohl vom 12. Brustwirbelkörper als auch von den Lendenwirbelkörpern 1-4 entspringt. Hier liegen gemeinsame Ursprünge mit der Pars lumbalis des Zwerchfells. Der M. iliopsoas ist von einer nozizeptorenreichen Faszie umhüllt. Diese ist am medialen Rand mit dem Leistenband verwachsen und zwischen Leistenband und Eminentia iliopubica zum Arcus iliopectineus verstärkt, der unter dem Leistenband zur Bildung der Lacuna vasorum bzw. musculorum führt. Nach oben steht die Faszie mit der Zwerchfellfaszie und dem Lig. arcuatum (spannt sich von 1. LWK über den M. psoas major) verbunden. Der Faszienschlauch kann bei Senkungsabszessen einen Ausbreitungsweg darstellen. Der M. iliopsoas hat enge topographische Beziehungen zum Plexus lumbalis, zur Niere, zum Ureter sowie zum N. genitofemoralis, der ihn durchbohrt. Aufgrund dieser komplexen anatomischen Beziehungen kann bei unklaren Rückenschmerzen, die in den Bauch ausstrahlen und urologisch, gynäkologisch sowie chirurgisch unauffällig sind, ein myofasziales Problem des M. iliopsoas vorliegen, das manualtherapeutisch behandlungsfähig ist.

Der Beitrag von J. Klein (Göttingen) stellt eine Besonderheit für ein medizinisches Symposium dar, da es sich nicht um einen Forschungsbericht handelte, sondern aus der Sicht eines betroffenen Schmerzpatienten die Erfahrungen mit verschiedenen deutschen Schmerzkliniken dargestellt wurden. Besonders fokussiert wurde dabei auf die psychologischen Aspekte, die von den behandelnden Ärzte immer wieder ins Spiel gebracht wurden. So wurde dem Patienten (und vielen anderen, die er in den Schmerzsprechstunden befragte) vorgeworfen, dass er seine Schmerzen erwarte. Dieser Ausspruch impliziert, dass der Patient seine Schmerzen haben wolle. Weitere, immer wiederkehrende Äußerungen waren: „Mit der Erwartungshaltung erzeugen Sie die Schmerzen“, „Sie beschäftigen sich auch intensiv mit Ihren Schmerzen“, „Die Schmerzen entstehen in Ihrem Kopf“. Vor dem Hintergrund, dass Schmerzpatienten detaillierte Fragebögen zur Erlangung eines differenzierten Bildes des Schmerzes (u.a. Schmerztagebuch) ausfüllen müssen, klingen diese Fragen verhöhnend und drängen den Patienten in eine „Psychoecke“. Nicht nur Schmerzkliniken nehmen Kopf und Psyche des Patienten ins Visier, sondern nach Beobachtungen des Referenten auch Berichte und Reportagen in verschiedenen Medien. So sagte ein Chefarzt einer deutschen Schmerzklinik im Fernsehen, dass „die Patienten etwas falsch machten, sonst bräuchten sie ja nicht da zu sein“. Der Beitrag dieses Schmerzpatienten macht insofern betroffen, da bei ihm und vielen anderen Patienten der Eindruck entsteht, dass Schmerz durch die Psyche und nicht durch diagnostisch eindeutig manifestierbare Ursachen entsteht.

Literatur
Wolf-Heideggers Atlas of human anatomy, 5th ed., Köpf-Meier P (Hrsg), Karger, 2000
Clinical oriented anatomy, 4th ed., Moore KL (Hrsg) Lippincott Williams &Wilkins, 1999
Pernkopf Anatomie. 3. Aufl., Platzer W (Hrsg), Urban & Schwarzenberg, 1989
Sobotta, Anatomie des Menschen, 20. Aufl., Putz R, Pabst R (Hrsg), Urban & Schwarzenberg, 1993

 

Autoren:
J. Giebel1) , U. Preuße2)
1) Institut für Anatomie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität-Greifswald, Klinikum, Anstalt Öffentlichen Rechts, Friedrich-Loeffler-Str. 23c, 17489 Greifswald.
2) Hülsmannstr. 6, 45355 Essen.