J. Fanghänel, U. Preuße, Th. Koppe
2. Curriculum Anatomie und Schmerz
Greifswald vom 9.9. - 11.9.1999

 

Unter der wissenschaftlichen Leitung von U. Preuße (Essen) und J. Fanghänel (Greifswald) fand wiederum im Greifswalder Institut für Anatomie die jährliche Fortbildungsveranstaltung für schmerztherapeutisch interessierte Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen statt, die sich in diesem Jahr in erster Linie mit der Lendenwirbelsäule, dem Piriformissyndrom und mit faszialen Strukturen des M. psoas beschäftigt hat. Der Kurs wurde in dankenswerter Weise in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung sowie der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt.

Die LWS ist wie die gesamte Wirbelsäule - aus Bewegungssegmenten (Junghans) zusammengesetzt, welche über Synarthrosen und Diarthrosen miteinander verbunden sind. Sie zeichnet sich durch ihre lordotische Krümmung und die Abknickung am Übergang zum Sakrum aus und ragt ventral tief in die Bauchhöhle hinein. Bei mageren Individuen läßt sie sich deshalb durch die Bauchdecken hindurch tasten. Wirbelkörper und Zwischenwirbelscheiben zeigen eine starke Höhen- und Breitenentwicklung. Auf etwa 19 cm Länge kommen nur 4 Unterbrechungen durch Zwischenwirbelscheiben. Diese Disci intervertebrales sind im Vergleich mit der Halswirbelsäule hoch, sie haben einen großen Querschnitt. Bedingt durch die besondere Form der Disci sowie durch die Anordnung der Wirbelbogengelenke ist die Beweglichkeit der LWS stark eingeschränkt. Die Wirbelbogengelenke haben in Höhe des 1. Lendenwirbels vertikal gestellte Gelenkflächen mit nur geringer Neigung zur Medianebene. Vom 2. Lendenwirbel an abwärts gewinnen die Gelenkspaltenebenen eine zunehmende Neuorientierung. Die Gelenkflächen des 5. Lendenwirbels sind der Frontalebene angenähert und verlaufen von vorne-oben nach hinten-unten.

Da die Abdominalorgane, trotz einer gewissen Verschieblichkeit, in einer relativ stabilen Lagebeziehung zur Wirbelsäule stehen, eignet sich die LWS vorzüglich als Orientierungshilfe für die Lagebestimmung verschiedener Organe. Beiderseits von ihr liegt der von einer derben Faszie eingehüllte M. psoas major und der inkonstante Psoas minor. Die Faszie des Psoas bildet eine eigenständige Loge, die mit den verschiedenen Ästen des Plexus lumbalis kommuniziert. Faszialer Zug kann in praxi immer eine klinisch relevante Irritation der verschiedenen Plexusäste bedeuten. Die ventralen Äste des Plexus lumbalis, welche aus den Foramina intervertebralia der LWS austreten, verzweigen sich innerhalb des Psoas major in verschiedene Äste, die vor, hinter, seitlich oder medial des Psoas major zu den Erfolgsorganen ziehen. Darüber hinaus finden sich medial vom Psoas major und lateral der Vorderfläche der Wirbelkörper die sympathischen Ganglia lumbalia. Ausgehend von den sehr komplexen topographischen Verhältnissen dieser Region erläuterte Th. Koppe (Greifswald), wie degenerative, entzündliche und sonstige Erkrankungen der LWS, aber auch mechanische Überbelastungen oder psychische Faktoren, in sehr unterschiedlicher Weise als Lokal- oder Fernsymptome in Erscheinung treten können. Neben Erkrankungen der LWS können in ähnlicher Weise Prozesse an inneren Organen zu verschiedenen Symptomen in Regionen der LWS führen, die sich klinisch adäquat wie andere Engpaßsyndrome verhalten können.

Dem Wunsch der Kursteilnehmer aus dem 1. Jahr folgend , wurde repetitiv die klinische Bedeutung des Beckenboden dargestellt. J. Buchmann ( Rostock) erläuterte den anatomischen Aufbau und die daraus resultierende Querstrukturierung in der allgemeinen Längsstrukturierung des menschlichen Körpers. Die miteinander kommunizierenden Gelenkpartner ( Iliosakralgelenk, Sakroiliacalgelenk, Symphyse, Sakrococcygealgelenk) lassen ein, sich unterschiedlich beeinflußbares Kräftesystem erkennen, so daß muskuläre Dysbalancen, fasziale und ligamentäre Fixationen nicht nur lokale Schmerzphänome, sondern auch neurophysiologische Fernbeziehungen (Fuß, Unterschenkel, Übergangsregionen der Wirbelsäule und Kopfgelenke) unterhalten können.

Aus der Sicht einer Schmerzambulanz nahm P. Krempien (Neubrandenburg) zum chronischen Rückenschmerz Stellung. Ca. 30 % der Bevölkerung leidet an Rückenschmerzen. Die Dunkelziffer liegt sicher höher, da oft nur Problempatienten an eine Schmerzsprechstunde überwiesen werden. Krempien erläuterte insbesondere, wie der Chronifizierungsgrad dieser Patienten mittels der MASK (multiaxiale Schmerzklassifikation) festgelegt wird. Therapieresistenz führt zu einem erneuten Überdenken und Korrektur der Therapie. Eventuell wird die Überweisung in eine Schmerzklinik notwendig.

Über den Stellenwert der Spinal Cord Stimulation (SCS) bei chronischem Rückenschmerz berichtete H. Harke (Krefeld). Der chronische Rückenschmerz beruht in der Regel auf degenerativen Veränderungen des muskulo-skelettalen Systems. Je nach Ausmaß und Lokalisation kommt es zu unterschiedlich stark ausgeprägten nozizeptiven Erregungen im Bereich von Muskeln, Sehnen, Gelenken und Skelettstrukturen. Therapie der Wahl ist neben einer dem WH0-Stufenschema angemessenen medikamentösen Therapie eine intensive Physiotherapie, die durch Elektrotherapie unterstützt werden kann. Dabei kommt es durch Hyperämisierung und Überwärmung zu einer Vasodilatation in schmerzenden Muskeln und im Sehnenareal, so daß durch eine begleitende Muskelrelaxation Schmerzlinderung erzielt wird. Demgegenüber bewirkt die elektrische Rückenmarkstimulation der Hinterstrangsysteme eine Freisetzung inhibitorischer Neurotransmitter im Hinterhorn des Rückenmarks. Je nach Lage der Elektrode kann die Schmerzübertragung in den von der Stimulation erfaßten Etagen des Rückenmarks komplett unterbrochen werden. Dieses Verfahren eignet sich daher vornehmlich zur Behandlung radikulärer, auf mehrere Segmente beschränkter Schmerzsyndrome. So ist es vor allem bei neuropathischen Nervenschmerzen bestimmter Körperpartien indiziert. Hierzu zählen unter dem Aspekt chronischer Rückenschmerzen insbesondere das Postdiskotomiesyndrom sowie die Postzosterneuralgie. Aufgrund der Hemmung sympatischer Efferenzen können Schmerzen wie die sympathische Reflexdystrophie (CRPS I) durch dieses Verfahren gleichfalls günstig beeinflußt werden.

U. Preuße (Essen) unterstrich, daß der Bereich Th12 / L1 eine Quelle diagnostischer Fehler sein kann. Bei der retrospektiven Betrachtung eines schmerztherapeutischen Patientengutes wurde die differentialdiagnostische Abklärung therapieresistenter LWS- Schmerzen im Zusammenhang mit dieser Übergangsregion untersucht. Der Zug der Fascia psoica, die Variationen des Ramus dorsalis des N. spinalis (er bleibt nicht im Segment, sondern bildet verschiedene Variationen) oder Irritationsmöglichkeiten von Nerven des Plexus lumbalis bedürfen der differentialdiagnostischen Abklärung zur ISG/SIG-Blockierung, zur Coxarthropathie, zum Piriformissyndrom sowie zu viszeralen abdominellen Erkrankungen. Nachfolgend differenziert durchgeführte interventionelle Blockaden und/oder manualmedizinische Behandlungen können einen therapeutischen Erfolg darstellen.

Das Piriformissystem wurde von mehreren Seiten beleuchtet. I. Paul (Greifswald) analysierte die Ursachen des Piriformissyndroms aus anatomischer Sicht. Beim Durchtritt des M. piriformis durch das Foramen ischiadicum majus entstehen in der Tiefe der Regio glutea das Foramen suprapiriforme bzw. infrapiriforme - zwei bindegewebig verschlossene Spalten am Ober- bzw. Unterrand des Muskels. Durch den oberen Spalt zieht der N. gluteus superior mit gleichnamigen Begleitgefäßen. Der infrapiriforme Spalt wird durchzogen: im lateralen Winkel vom N. ischiadicus (mit einem eigenen Versorgungsgefäß, der A. comitans n. ischiadici) und dem N. cutaneus femoris posterior, in der Mittelzone vom N. gluteus inferior und im medialen Winkel vom N. pudendus; beide Nerven jeweils mit gleichnamigen Begleitgefäßen. Sowohl der M. piriformis als auch Verläufe der genannten Leitungsbahnen und deren Verzweigungen können atypische Besonderheiten aufweisen, die z.T. zur Erklärung des Piriformissyndroms herangezogen werden. Die häufigste Anomalie des M. piriformis ist seine Spaltung durch Bündel des Plexus sacralis in zwei Bäuche, seltener ist eine komplette Verdoppelung. Auch eine Dreiteilung des Muskels mit der Bildung von Foramina intrapiriformia wurde beobachtet. Häufig kommt es zu Verwachsungen des Piriformis mit benachbarten Muskeln: mit den Mm. gluteus medius und minimus, gemellus superior oder (selten) mit dem M. obturatorius internus.

Zu den häufigsten Variationen des N. ischiadicus gehört die hohe (plexusnahe) Teilung in seine beiden Hauptäste (bei Europäern in 15 %). Die o.g. Spaltung des M. piriformis ist nahezu immer verknüpft mit einer solchen Teilung. Dabei tritt in der Regel der N. peroneus communis durch den gespaltenen Piriformis, der andere Hauptast (N. tibialis) durch das Foramen infrapiriforme. In einzelnen Fällen wird in der Literatur auch ein Zusammenhang des Piriformissyndroms mit Erkrankungen von Schleimbeuteln in der Regio glutea diskutiert, sowie mit einer atypischen Gefäßversorgung des N. ischiadicus (A. comitans, den M. piriformis perforierend).

Aus neurologischer Sicht definierte J. Machetanz (Greifswald) das "Piriformissyndrom" als ein Entrapmentsyndrom (= Einklemmungssyndrom) vor allem des N. ischiadicus, seltener auch der Nn. gluteus superior und gluteus inferior bedingt durch eine Abnormalität im Bereich des M. piriformis (s. o.). Neben den 0. g. anatomischen Variationen werden als Ursachen hierfür auch Spasmen/Entzündungen nach Trauma diskutiert, die bedingt sein können durch Hämatome, Verkalkungen im Rahmen einer Myositis ossificans, lokale Entzündungen, dystone Bewegungsstörungen sowie durch benachbarte Raumforderungen. Das Vollbild ist klinisch durch Schmerzen im Gesäß mit Ausstrahlung in das Bein charakterisiert, die durch mechanische Belastung des M. piriformis verstärkt werden und die von einer neurogenen Läsion des N. ischiadicus begleitet sind. Letztere läßt sich klinisch (Paresen, Reflexabschwächungen, Sensibilitätsstörungen) und elektrophysiologisch (EMG, evozierte Potentiale, H-Reflexe) objektivieren.

Das geschilderte Vollbild des Piriformissyndroms ist ausgesprochen selten. Sehr viel häufiger sind Fälle ohne manifeste Paresen, Reflexabschwächungen und Sensibilitätsstörungen, m denen jedoch eine Schmerzsymptomatik subjektiv angegeben wird. Zu Untersuchungsmöglichkeiten zählen die rektale Palpation des M. piriformis sowie verschiedene Belastungstests (Test nach Freiberg, Pace'sschen Manöver, Test nach Beatty). Therapeutisch werden in Fällen ohne manifeste neurologische Ausfälle vor allem konservative Maßnahmen mit lokaler Injektion von Lokalanästhetika und/oder Kortikoiden sowie physiotherapeutische Maßnahmen (Dehnungsübungen des M. piriformis = piriformis stretch) empfohlen In Fällen mit manifesten neurologischen Ausfüllen (z. B. Paresen) wird man einer invasiven Therapie (Neurolyse) den Vorzug geben.

Den Aufbau von faszialen Strukturen des Psoas major und deren nozizeptive Bedeutung analysierte J. Fanghänel (Greifswald). Der Muskel und seine Faszie bilden eine morphologische und funktionelle Einheit. Die Faszie schließt die Muskeloberfläche ab, schützt den Muskel, isoliert ihn gegen seine Nachbarschaft und verbindet ihn gleichzeitig mit derselben. In die Muskelfaszie geht das in Gruppen von Primärbündeln umhüllende Perimysium externum über. Die formstabilisierende Faszie stellt ein straffes geflechtartiges Bindegewebe dar, bestehend aus kollagenen und elastischen Fasern, wobei erstere dominieren. Wirken die Zugkräfte aus verschiedenen Richtungen auf das straffe Bindegewebe der Faszie ein, so erfolgt eine geflechtartige Anordnung der Fasern in Form eines Scherengitters. Das gemischte Vorkommen von kollagenen und elastischen Fasern erlaubt zusätzlich eine reversible Formveränderung der Faszie. Die Fasersysteme sind so durchwoben, daß mechanischer Zug aus allen Richtungen abgefangen werden kann. Der Anteil elastischer Fasern ist jedoch bestimmend für die elastische Verformbarkeit der Faszie. Von der Einheit Muskel/Faszie kann somatischer Schmerz (Tiefenschmerz) ausgehen. Die nozizeptive Situation/Bedeutung liegt darin begründet, daß wir im Bindegewebe der Faszie, vor allem am Muskelursprung und -ansatz, sensible Nervenendigungen finden. Es handelt sich hierbei um Endstrecken von Nervenfasern, die lediglich nur noch aus dem Axon (C-Fasern) oder aus dem Axon, welches nur partiell von Schwannzellen umhüllt ist (Ad -Fasern), bestehen. Diese Endverzweigungen sind varikös aufgetrieben. In den Auftreibungen, welche nicht von Schwannzellen bedeckt sind, befinden sich zahlreiche Vesikel und Mitochondrien. Dieses nozizeptive System zeigt eindeutig Selektionsvorteile. Die Schmerzempfindlichkeit korreliert allerdings mit der Anzahl der Nozizeptoren. Zur Nozizeption führen mechanische, thermische und chemische Reize (Nozizeptorschmerz). Die meisten Nozizeptoren sind polymodal, d.h. sie sind nicht nur auf einzelne, sondern auf verschiedene Reize gleichzeitig ansprechbar. Es sei aber auch erwähnt, daß nicht jede Reizung von Nozizeptoren zur Schmerzempfindung führt; aber auch nicht jeder Schmerz resultiert aus einer Reizung von Nozizeptoren. Hier sei der Nervenschmerz nach Schäden am Nervensystem (= neuralgischer Schmerz, z. B. bei Schäden des in den Muskel eintretenden Nerven) sowie der Schmerz nach Fehlregulationen (Blutgefäße des Muskels) genannt. Möglicherweise kann auch das Scherengitter des Bindegewebsskeletts der Muskelfaszie ursächlich an mechanischen (neuralgischen) Reizen der Nerven beteiligt sein, so wie wir das bei verschiedenen Schmerzsyndromen vorfinden. Hier spielt dann auch die Kontraktionssituation des Muskels eine Rolle. Da fasziale Irritationen häufig auch den hochauflösenden diagnostischen Verfahren wie CT und MRT zugänglich sind, resultiert hieraus eine mögliche morphologische Ursache für die sog. nicht verifizierbaren chronischen Schmerzphänomene.

Über die einzelnen Arten von Nozizeptoren, Sinnesrezeptoren und die Regelkreise, welche zur bewußten Schmerzempfindung führen, berichtete eingehend B. Freitag (Rostock). Nozizeptoren sind Rezeptoren, die verläßlich nicht-noxische von noxischen Ereignissen unterscheiden, über die das Zentralnervensystem informiert werden soll. Sie finden sich in der Haut, in tiefen Strukturen (Muskeln, Gelenken) sowie in den Eingeweiden. Weiterhin existieren trigeminale und mechano-insensitive Nozizeptoren. Die detaillierte Darstellung der Sensibilisierungsvorgänge im nozizeptiven System beruht auf der Überzeugung, daß bei der Behandlung akuter Schmerzen bzw. zur Vermeidung chronischer Schmerzzustände alle Phänomene der Nozizeption gebührend beachtet werden müssen.

Die Teilnehmer hatten die Möglichkeit, die an vorpräparierten Leichen erworbenen anatomischen Verhältnisse in vivo zu visualisieren und die praktische Umsetzung zu diskutieren. Weitere interdisziplinäre Vorträge aus den Gebieten der Manuellen Medizin (J. Buchmann, Rostock), der Psychologie (H.-J. Hannich, Greifswald), der Schmerzdiagnostik und -therapie (W. Diemer, Greifswald; W. Liebschner, Schwerin; V. Fuchs, Köln) rundeten die Thematik sinnvoll ab.

 

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Dr. med. U. Preuße
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