ABSTRACT

 

 

 

 

Myofasziale Strukturen:
Brücken zwischen Becken, Rumpf und Extremitäten

 

Myofasziale Strukturen:
Brücken zwischen Becken, Rumpf und Extremitäten

Jürgen Giebel
Institut für Anatomie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

 

Das Becken begrenzt den Stamm nach kaudal, trägt den Rumpf und überträgt das Gewicht über das Hüftgelenk auf die untere Extremität. Das Becken beinhaltet das Urogenitalsystem, Teile des Dickdarms, den Plexus sacralis, und es ist Durchzugsort von großen Gefäßstämmen. Am Becken finden sich Verschlusssysteme aus glattmuskulärer und angiomuskulärer Muskulatur, deren Störungen Ursache bedrängender Krankheiten darstellen können.
Vom Becken entspringt eine Vielzahl von Muskeln und Faszien, die zum Bein, Rücken oder Bauch ziehen. Der Eingeweideraum des Beckens steht ventral über die Fascia transversalis und das Bauchfell mit dem Zwerchfell in Kontakt. Der Bindegewebsraum des Beckens (Spatium subperitoneale, Subperitonealraum) geht an der Dorsalseite in den Retroperitonealraum über (Abb. 1)

Knöchernes Becken und Sakroiliakalgelenk
Das Becken besteht aus den beiden Hüftbeinen [Ossa coxae, jeweils zusammengesetzt aus Os ilium (Darmbein), Os ischii (Sitzbein), Os pubis (Schambein)], die ventral über die Schambeinfuge (Symphysis pubica) verbunden sind und dorsal mit dem Kreuzbein (Os sacrum) unter Bildung des Sakroiliakalgelenkes (SIG, Articulatio sacroiliaca) artikulieren. Das SIG ist ein echtes Gelenk mit hyalinem Gelenkknorpel und Synovia. Über das SIG wird das Gewicht des Rumpfes auf das Becken übertragen. Aufgrund der Sicherung durch verschiedene Bänder ist die Bewegungsmöglichkeit stark eingeschränkt (Amphiarthrose). Bei der Frau findet eine Lockerung dieses Bandapparates beim Geburtsvorgang statt. Die unebenen Gelenkflächen des SIG werden von den Sakralwirbeln 1-3 gebildet und sind 6-8 cm lang und 2-3 cm breit. Beim Mann zeigt das SIG viele Rippen und Vorwölbungen, wodurch es eine geringe Beweglichkeit und eine hohe Stabilität erhält (Formschluss). Da bei der Frau die Beweglichkeit erheblich höher ist, nimmt die Sicherung durch Bänder und Muskeln eine bedeutende Stellung ein (Kraftschluss). Die Innervation des SIG ist komplex und erfolgt durch Äste aus S1 und S2 sowie dem N. gluteus superior. Außerdem besitzt der Kapsel-Band-Apparat eine hohe Rezeptorendichte.

Sicherung des SIG
Zu den Bändern, die den Beckenring und besonders das SIG sichern, zählen dorsal das Lig. sacroiliacum posterius, Lig. sacroiliacum interosseum, Lig. sacrotuberale, Lig. sacrospinale sowie ventral das Lig. sacroiliacum anterius. Die muskuläre Verspannung erfolgt 1) über den M. piriformis, der als einziger Muskel auf der Innenseite des Beckens über das ISG verläuft, am Os sacrum inseriert und das Os sacrum gegen das Os ilium bewegen kann und 2) über den M. gluteus maximus, der als einziger Muskel auf der Dorsalseite über das ISG zum Os sacrum zieht und großen Einfluss auf den Beckenring hat (Abb. 2).

Faszien und Muskelketten

Vom Beckenkamm entspringt dorsal die Fascia thoracolumbalis, die die oberflächlichen und auch die autochthonen Rückenmuskeln umscheidet. Über die Faszie und die Rückenmuskeln (M. erector spinae) bestehen Verbindungen des Beckens zum Thorax, zur Brust- und

 
 
Abb. 1: Ausdehnung der Peritonealhöhle, Lage
der Beckenorgane und Verbindung des Retro-
peritonealraumes mit dem subperitonealen Bindegewebsraum (aus Köpf-Meier, 2000)
  Abb. 2: Verspannung des SIG innen über den
M. piriformis und dorsal über den M. gluteus maximus (aus Hochschild, 2002)

 

Halswirbelsäule und zum Kopf (Muskelketten). Die Fascia glutea, die nach distal mit der Fascia lata und dorsal mit der Fascia thoracolumbalis verwoben ist, zieht über den großen Gesäßmuskel und verspannt das SIG.
Ventral bestehen Verbindungen des Beckens über die Bauchwandmuskeln mit dem Thorax und dem Zwerchfell. Weitere Verbindungen ergeben sich über Muskelketten der Interkostalmuskeln, den Zungenbeinmuskeln (infra- und suprahyale Muskeln) und den Kaumuskeln. Ebenso besteht eine Verbindung zum Bauchfell und dem Zwerchfell über die Fascia transversalis. Eine weitere Verbindung, die auch als kraniosakrales System bezeichnet wird, besteht über den Canalis spinalis, die ihn auskleidende Dura mater und den Liquor cerebrospinalis.

 

Das Becken als Schaltstelle
Aufgrund des Ursprunges verschiedener Faszien und Muskeln bildet der Beckengürtel eine Schaltstelle zwischen den unteren Extremitäten einerseits und dem Rumpf bzw. dem Perineum andererseits. Die vom Becken aufgenommenen Kräfte werden kontrolliert und umgelenkt. Das Becken ist somit eine zentrale Struktur im System der Faszienseile und Umlenkrollen wobei die Faszienketten auch als Stoßdämpfer dienen (Abb. 3). So läuft eine Reihe von Faszienketten über das Becken (Abb. 4). Die laterale Faszienkette beginnt am Fuß, verläuft über Unterschenkel, Knie, auf der Vorder-Außenseite des Oberschenkels, Tractus iliotibialis und Fascia lata zu Hüfte und Becken (als Schaltstelle) und verläuft dann entweder über die Mm. recti abdominis zum seitlichen Schädelbereich oder posterior über die Fascia thoracolumbalis (Abb. 4, C). Die anteriore Faszienkette beginnt am Fuß, verläuft über die Vorder-Innenseite des Unterschenkels, die Adduktorenfaszie, das Schambein (als Schaltstelle) und die Bauchmuskeln zur Clavicula (Abb. 4, A). Die posteriore Faszienkette beginnt am Fuß, zieht über die Rückseite der Wade, zum Gesäß und über die Fascia thoracolumbalis zum Hinterhaupt (Abb. 4, B).

 
 
Abb. 3. Das Becken im Zentrum der Faszienseile und Umlenkrollen. Schematisch betrachtet sind Faszien Seile, die Kräfte über den Körper tragen (aus Paoletti, 1998).   Abb. 4. A) anteriore Faszienkette, B) posteriore Faszienkette und C) laterale Faszienkette. X=Berührungspunkte der Faszien und Schaltstellen (aus Paoletti, 1998)

 

Bindegewebsräume und Fasziensysteme des Beckens
Das Beckenbindegewebe ist gleichzeitig Halteapparat, Verschiebeschicht und Gefäß-Nervenstraße. Es gliedert sich in straffes Bindegewebe (Ligamenta) und lockeres Bindegewebe (Spatium). Die intrapelvinen Bindegewebe finden sich als Pfeiler um die Organe und werden auch als Paraproctium, Paracystium und Parametrium bezeichnet. Des weiteren sind die Beckenorgane von straffem Bindegewebe (Faszien) umhüllt (Abb. 5).

Weitere wichtige Bedeutung kommt dem Abschluss des Beckens zu, der von Muskeln und Faszien gebildet wird, die gleichzeitig den Durchtritt verschiedener Öffnungen (Harnröhre, Rectum) gewährleisten. Zu den Faszien des Perineums zählen 1) die subkutane Fascia perinei superficialis, die sich zwischen Ramus ossis ischii und Tuber ischiadicum ausspannt; 2) die mittlere Fascia diaphragmatis urogenitalis (Carcassonne-Band), die aus zwei Blättern besteht und 3) die Fascia pelvis, die sowohl den vorderen und den rückwärtigen Teil des Dammes überzieht und wie eine trichterförmige Auskleidung über den Muskeln des Beckenbodens liegt.

 
 
Abb. 5. Bindegewebsräume im weiblichen Becken. Die Pfeile geben die Richtung der Gefäß-Nervenleitplatte für Rektum, Uterus und Harnblase an (aus Lang und Wachsmuth, 1984)   Abb. 6. Frontalschnitt durch das männliche Becken und Stockwerkgliederung des Beckenbodens (aus Paoletti, 1998)

 

Literatur

  1. Fanghänel J, Pera F, Anderhuber F, Nitsch R (Hrsg.), 17. Aufl., Walter de Gruyter, Berlin, 2003
  2. Hochschild J (Hrsg) Strukturen und Funktionen begreifen. Funktionelle Anatomie-Therapierelevante Details; LWS Becken und Hüftgelenk, Untere Extremität. Thieme Verlag 2002
  3. Köpf-Meier P (Hrsg) Wolf Heidegger`s Atlas der Anatomie des Menschen. 2 Kopf und Hals, Brust, Bauch, Becken, ZNS, Auge, Ohr. 5. Auflage, Karger 2000
  4. Lang J, Wachsmuth W (Hrsg) Praktische Anatomie, 2. Band, Teil 8a, Becken, Springer Verlag 1984
  5. Paoletti S (Hrsg.) Faszien Anatomie, Strukturen, Techniken, Spezielle Osteopathie. 1. Auflage, Urban & Fischer 1998
  6. Waldeyer Anatomie des Menschen.