ABSTRACT
Die Hüfte - viele Fragen |
Die Hüfte - viele Fragen |
Paul Ridder
Therapiezentrum Jesuitenschloß, Feiburg/Breisgau
Kurzfassung
Im ersten Teil dieser Arbeit sollen die unterschiedlichsten diagnostischen wie therapeutischen Ansätze und Thesen beim Hüftschmerz erfasst werden.
Im zweiten Teil wird an einigen Beispielen belegt, dass Hüftschmerzen durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst werden können, welche kausal behandelt werden müssen, um erfolgreich zu sein. Hier möchte ich Fälle zeigen, die nicht die üblichen Hüfterkrankungen wie Coxarthrose, Morbus Perthes, etc. darstellen, sondern u.a. Funktionsstörungen des Sakrums durch Kraftmessungen der ischiokruralen Muskulatur dokumentieren, welche zu Hüft- und Knieschmerzen führen können.
Diese Dokumentation der Testung der ischiokruralen Muskulatur stellt einen in einer Studie abgrenzbaren Ausschnitt funktioneller neurologischer Diagnostik der Applied Kinesiology dar.
Darüber hinaus werden noch andere Erkrankungen vorgestellt, die zu Hüftschmerzen und Problemen im Bereich der Hüfte führen können , wie ischämische Erkrankungen unter Stressbedingungen, Nierenerkrankungen mit Psoasbeteiligung, etc.
Einleitung:
Diese Arbeit liefert ein Beispiel für die nicht lineare, komplexe Vorgehensweise, die bei ein und derselben Diagnose " Hüftschmerz" notwendig ist, um zum Ziel einer erfolgreichen Therapie zu kommen.
Bei der Analyse zahlreicher Veröffentlichungen und Vorträge auf Kongressen erhält man oft den Eindruck, dass es nur wenige wesentliche Ursachen für den Hüftschmerz gäbe ( je nachdem welchen Kongress man besucht ) und interessanterweise geben die meisten Autoren eine Erfolgsquote von ca. 70% im Durchschnitt an.
Teil 1
Ursachenkomplexe
Lassen Sie uns zunächst die unterschiedlichen Thesen näher ansehen, wobei hier nicht der Anspruch auf Vollständigkeit besteht.
1. Symptomkomplex: Theorie der Gelenkpathologie:
Hier muss zunächst unterschieden werden in
a) Arthrose
Durch eine Vielzahl von Möglichkeiten: Fehlhaltung, Beinlängendifferenz, posttraumatisch, postentzündlich, etc.
b) Arthritis
2. Symptomkomplex: Ligamente
Aus der Abbildung (2) kann man entnehmen, welche Vielzahl von Bändern das SIG, das Becken und die LWS stützen. Einige Besonderheiten sind dabei zu erwähnen:
3. Symptomkomplex: Muskel/Haltung
Über dieses Thema allein könnten Bücher geschrieben werden. Ich möchte nur einige Punkte festhalten, die besonders interessant sind, denn dass insgesamt das Muskelsystem für die Haltearbeit und damit bei ausreichender Trainiertheit eine wesentliche Rolle zur Reduzierung des LBP spielt, zeigt nicht umsonst die Vielzahl von Studien über Rückenschulen, Schmerzreduzierung durch medizinische Trainingstherapie, Brügger, Gyrotonics, etc. (1,5,6,9,20,25,27,29,40,41,45,60,69). Ein genaues Eingehen auf alle Stabilisations-/Haltungsprogramme würde den Rahmen dieser Studie sprengen.
Eine Auswahl:
4. Symptomkomplex: Kiefergelenk
Die zentrale Rolle des Kiefergelenkes mit seiner außerordentlich großen Propriozeption wird seit einigen Jahren zunehmend erkannt und diskutiert (15,24,32,48,58,62,63). Funktionelle Beinlängendifferenzen, Beckenverdrehungen, Blockierungen des SIG, segmentale Funktionsstörungen der LWS und LBP stehen häufig mit einem Kiefergelenkproblem oder einer Bissanomalie in Verbindung, wobei über die genauen Prozentzahlen noch keine genauen Angaben gemacht werden können, in meiner Praxis aber mindestens 15% des Patientenclientels ausmachen.
5. Symptomkomplex: viszerale Probleme
Querverbindungen zwischen internistischen Erkrankungen und segmentalen Funk-tionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule/des Beckens oder umgekehrt sind über die somatovisceralen Reflexe die Regel, die Frage ist nur, in welchen Prozentsatz sind sie vorhanden? Schätzungen gehen bis zu 50%. Der Zusammenhang zwischen Herz und Brustwirbelsäule, Gallenblase und mittlerer BWS ist seit Jahrzehnten bekannt. Wie sieht es aber im Bereich LWS/SIG und inneren Organen aus?
In Versuchen wurden Wirbelläsionen gesetzt und Veränderungen in Magensäureproduktion, etc. gemessen.
6. Diverses:
Wie bereits der Tabelle 1 zu entnehmen war, existieren eine Vielzahl von Gründen für den Hüftschmerz, welche aber zahlenmäßig nicht so im Vordergrund stehen, dass sie hier getrennt abgehandelt werden sollen, sonst würde der Rahmen der Studie gesprengt. Zu Erwähnen sind aber sicherlich die Osteoporose, div. Infektionen, Tumore, Triggerpunkte ,etc.
Diskussion
Ziel war, die wesentlichen Aspekte des Hüftschmerzes darzustellen, wobei versucht wurde, in den einzelnen Symptomenkomplexen einige interessante Aspekte und Denkanstöße zu vermitteln. Natürlich konnten dabei nicht alle Gründe berücksichtigt werden.
Meines Erachtens sind die Ursachen für den Hüftschmerz derartig vielfältig, dass häufig eine Multikausalität vorhanden ist, speziell durch die Verkettungen neuraler, muskulärer, faszienartiger, internistischer, psychischer und anderer Art, so dass oft auch nur ein multifunktioneller Therapieansatz zum Erfolg führen kann.
Natürlich ist immer die Möglichkeit gegeben, durch einen Eingriff in den Circulus vitiosus durch eine Art "Sekundenphänomen" nach Hunecke oder durch den sogenannten POE (Point of Entry der Osteopathen) die ganze Kette aufrollen zu können und zum Erfolg zu kommen, was aber eher nicht die Regel sein dürfte, wobei ich mich durch diese Aussage bereits sicherlich massiven Protesten der Manualtherapeuten gegenüber sehe.
Teil 2
Einleitung:
A) Das erste Beispiel stellt die Sacrumbehandlung dar, wobei anatomische, neurale, internistische und weitere Zusammenhänge dargestellt werden sollen. Grundlage ist die Studie an 126 Patienten, die alle mit eine Schwäche der Hamstrings im manuellen Test der Applied Kinesiology in die Praxis kamen. Nach Goodheart (z.B. in Walther 1999) sind funktionelle Inhibitionen der Hamstrings mit Sacrumfehlstellung assoziiert. Patienten mit normoreaktiven oder hyperreaktiven Hamstrings wurden nicht in die Studie aufgenommen. Die Muskeln wurden hier mittels der Muskelteste nach Kendall und Kendall und per Digimax Kraft/Zuggerät getestet.
Durchführung:
Alle Patienten klagten über tiefsitzenden Kreuzschmerz. Bei der anamnestischen Befragung wurden des weiteren folgenden Punkte genannt, wobei bis auf den Punkt 4 nicht zwischen den Geschlechtern unterschieden wurde.
S. Tabelle (Mehrfachnennungen von Patienten waren möglich).
n=126 (73 Frauen, 53 Männer)
Beschwerden |
n = Anzahl Patienten |
Prozentangaben |
Chron.Rückenschmerzen |
n=126 |
100% |
Verdauungsstörungen |
n= 30 |
24% |
Polyposis des Dickdarm |
n= 3 |
2,4% |
Gynäkologische Probleme |
n= 17 |
23,3% |
Leistenschmerz/Schmerzen linker Unterbauch |
n= 19 |
15,1% |
Knieschmerzen |
n= 74 |
58,7% |
Sturz auf das Gesäß/Becken |
n= 8 |
6,4% |
Krämpfe der ischiokruralen Muskeln |
n= 59 |
46,8% |
Protrusion/Prolaps bzw. Zust. nach Bandscheiben OP |
n= 13 |
10,3% |
Nackenschmerzen |
n= 89 |
70,6% |
Migräne |
n= 12 |
9,5% |
rezidivierende Urethritis/Pyelonephritis |
n= 6 |
4,7% |
Kieferschmerz/Kieferknacken |
n= 18 |
14,3% |
Messung
:Ergebnis
Nach der Therapie zeigten im Durchschnitt die Patienten ca. 30 % mehr Kraft über einen 3-4 mal so langen Zeitraum, wie vor Beginn der Therapie. Eine Flächenberechnung der Kraft-/Zeitkurve, die eine noch genauere Aussagekraft geben würde, konnte aus technischen Gründen mit dem Gerät nicht durchgeführt werden.
Die Abb. 6 zeigt nochmals den Kraftzuwachs als Blockdiagramm.
Bei der Untersuchung ergaben sich folgende Aspekte (s. Tabelle), die im Einzelnen erklärt werden sollen.
Tabelle ( mehrere Befunde gleichzeitig waren möglich )
Befund |
% Patienten |
Erklärung |
1. Schwache/hyporeaktive Hamstrings |
100% |
getestet mit Digimax |
2. Störung des Dickdarmmeridians |
12% |
gestörtes Meridiansystem |
3. Stärkung der Hamstrings durch Medikamente wie z. B. Calcium und Magnesium |
74% |
Mineralienmangel |
4. Stärkung der Hamstrings durch Inspiration |
98% |
Bei Inspiration richtet sich die Sakrumbasis nach dorsal auf, dasselbe wird durch Halten der Spitze nach anterior erreicht. |
5. Stärkung der Hamstrings durch gehaltenen Challenge des Os sacrum in Flexion, d.h. Basis nach dorsal und Spitze nach ventral |
95% |
Bei Inspiration richtet sich die Sakrumbasis nach dorsal auf, dasselbe wird durch Halten der Spitze nach anterior erreicht. |
6. Stärkung der Hamstrings durch Behandlung des Kiefers |
14% |
Hier ist das Kiefergelenk hauptsächlich verantwortlich für die kraniosakralen Störungen, welche bis zum Sakrum hinuntergehen. |
7. Gestörte Sakrumschaukel |
53% |
Erhöhte Duraspannung |
8. Schwacher M. psoas einseitig |
4% |
Nierenproblematiken |
9. Blockierung SIG einseitig |
67% |
Funktionstörung SIG |
Erklärungen:
Ad 1: |
Hyporeaktive Hamstrings: die Erklärung wurde bereits oben unter dem Punkt Messung gegeben. |
Ad 2: |
Störung des Dickdarmmeridians: bei den Fällen mit gestörter Dickdarmmeridianfunktion konnten durch Behandlung des Meridians und/oder Massage des Tonisierungspunktes die Hamstrings ebenfalls gestärkt werden. |
Ad 3: |
Nach der Lehre Applied Kinesiology wie aber auch in alten chinesischen Büchern über Akupunktur sind die Hamstrings dem Dickdarm zugeordnet. Die Resorption von Calcium und Magnesium erfolgt hauptsächlich über den Dickdarm. Ein Schutz gegen Sauerstoffradikale speziell an den Zellwänden der Dickdarmschleimhaut stellt das Vitamin E dar. Somit können durch Gabe von Calcium, Magnesium, Vitamin E und anderen orthomolukularen Mitteln ebenfalls die Hamstrings gestärkt werden. |
Ad 4 |
Stärkung durch Inspiration bzw. durch gehaltenen Challenge (Challenge bedeutet allgemein: jeder auf den Körper ausgeübte Reiz. Im speziellen Falle hier. Halten der Sacrumspitze nach ventral.): Das Os sacrum richtet sich bei Inspiration mit seiner Basis nach dorsal auf und geht mit seiner Spitze nach ventral. Häufig ist die Schwäche der Hamstrings mit einer nach ventral verlagerten Sakrumbasis assoziiert, so dass durch die Rückverlagerung der Sakrumbasis nach dorsal durch manuelle Therapie unter zu Hilfenahme der Inspiration die Hamstrings gestärkt werden konnten. In welchem Prozentsatz nun die alleinige Kippung des Os sacrum (z.B. durch einen Sturz auf das Gesäß) für die Schwäche der Hamstrings oder aber die z.B. durch internistische Probleme ausgelösten schwachen Hamstrings für eine Abkippung der Sakrumbasis nach ventral verantwortlich sind, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantwortet werden. |
Ad 6: |
Über fortgeleitete Störungen vom Kiefergelenk, Nackenrezeptorenfeld mit Fehlstellung C1/C2, Sakrumfehlstellung und damit SIG Problematiken können ebenfalls schwache Hamstring resultieren. Ist das Kiefergelenk für diese Störung im Sinne einer absteigenden Funktionsstörung verantwortlich, so kann nur über Einstellung des Bisses bzw. des Kiefergelenkes eine Beckenfunktionsstörung und damit auch eine Schwäche der Hamstrings behoben werden. |
Ad 7: |
Gestörte Occiput Sakrumschaukel: die Dura mater ist lediglich im Schädelinneren, im Bereich von C2 und dann wieder S2 knöchern fixiert. Bei einer Störung im gesamten kraniosakralen Funktionskreislauf kann es daher zu einer erhöhten Duraspannung kommen. Diese zeigt sich häufig darin, dass die normale Occiput-Sakrumbewegung gestört ist, d. h. normalerweise müsste bei Flexion des Occiput die Sacrumbasis nach dorsal gehen, in dieser gestörten Bewegung aber bewegen sich Occiput und Sakrum gegenläufig. |
Ad 8: |
Schwacher M. psoas: Bei einseitigen Nierenaffektionen kann es über eine Mitbeteiligung des M. psoas durch reflektorische Hyper- bzw. Hypotonizität zu einer Rotationsfehlstellung der LWS und auch des SIG kommen. |
Behandlung:
Ergebnis:
Behandelt wurde im Durchschnitt 4 - 5 mal. Von 126 Patienten waren 97 Patienten (77%) beschwerdefrei, 16 Patienten (12,7%) deutlich gebessert und 13 Patienten (10,3%) hatten nur vorübergehend keine Besserung.
Misserfolg/"Versager":
In wenigen Fällen lag statt der Sakrumfehlstellung mit Basis nach ventral eine Kippung der Sakrumbasis nach dorsal vor, so dass anstatt mit Inspiration und gehaltenem Challenge der Spitze nach anterior genau umgekehrt mit Expiration und Mobilisation der Basis nach anterior gearbeitet werden musste. Diese Patienten wurden ebenfalls erfolgreich behandelt. Versager der oben genanten Therapie waren die Patienten, denen nur kurzfristig für einige Stunden, Tage oder wenige Wochen Erleichterung bzw. Schmerzfreiheit verschafft werden konnte. Diese Misserfolge lassen sich in insgesamt 6 Gruppen zusammenfassen:
Ischämische Femurkopfnekrose
Mir liegen mehrere Fälle von Patientendaten vor, die alle eine Femurkopfnekrose oder ein Knochenödem "ohne erkennbare Ursache" bekamen, bei denen aber diverse Faktoren übereinstimmten, wie zum Beispiel Sportler, psychischer Stress im Beruf und Familie, Zwanghaftigkeit und Bissdysfunktion. Darauf wird ausführlicher im Vortrag eingegangen.
Nieren-/ Psoasbeteiligung
Durch Nierensteine, -zysten, -infektionen oder -traumata mit retroperitonealen Einblutungen kann es zu Veränderungen im Bereich der Psoasspannung kommen, was wiederum Auswirkung auf die Stellung der Hüfte, die Hüftkapsel und die umgebenden Strukturen hat, wodurch Hüftschmerzen produziert werden können.
Diskussion:
Im Vordergrund der Hüfterkrankungen stehen die degenerativen Prozesse, wobei man die Frage stellen muss, ob diese häufiger durch Entzündungen, Muskelinsuffizienzen und Haltungsprobleme, Sakrum- und Beckenfehlstellungen mit konsekutiven Fehlbelastungen, Beinlängendifferenzen oder anderen, nicht unwesentlichen Faktoren entstehen
Definitiv würde aber mit keiner singulären Sichtweise und der daraus resultierenden Behandlungsmethode eine Erfolgsquote bei 70 % oder höher vorliegen. Die Lösung kann daher nur multifaktoriell, multikausal sowie ein multitherapeutischer Ansatz sein, so wie er beispielhaft in Teil 2 beschrieben wurde. Bei diesem Ansatz kommt dem Sacrum/Becken aufgrund seiner anatomischen Lage eine Schlüsselstellung bei der Diagnostik wie Therapie zu, da es extrem vielen Einflüssen unterliegt, wobei das Sacrum selten primär der Auslöser sein dürfte, sondern von den umgebenden Strukturen mit beeinflusst wird und seinerseits wiederum die Hüften wesentlich beeinflusst. Derartig vielschichtig muss demnach auch die Untersuchung bzw. Behandlung sein.
Fazit:
Bei der Therapie von Hüftschmerzen hat das Os sacrum eine wichtige Schlüsselfunktion, da es entweder primär oder sekundär in seiner zentralen Stellung beeinträchtigt sein kann. Eine Verabschiedung vom monokausalen Denken zu Gunsten eines multifaktoriellen Ansatzes ist dabei dringend geboten.
Literatur
Weitere Literatur beim Verfasser