ABSTRACT

 

 

 

 

Untere Extremität – schmerztherapeutische Fragestellungen

 

Untere Extremität – schmerztherapeutische Fragestellungen

 

Uwe Preuße1, Jochen Fanghänel2
1 Gemeinschaftspraxis "Partner der Gesundheit," Essen
2 Institut für Anatomie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die untere Extremität ist Stütz- und Fortbewegungsorgan gleichermaßen. Zu ihr gehört im weiteren Sinne der Beckengürtel, der fest am Achsenskelett verankert ist. Der bewegliche Teil, das Bein, gliedert sich in Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß. Da wir in allen Strukturen Knochen, Gelenke, Muskeln, Gefäße und Nerven auf relativ engem Raum vorfinden, sind auch die Ursachen von Schmerzphänomenen mannigfaltig. Schmerzphänomene fallen deshalb auch ganz unterschiedlich aus und können lokal oder fortgeleitet entsprechend der Nervenverläufe wirksam werden. Nach funktionell-anatomischen und ursächlichen Gesichtspunkten kann man die Schmerzsyndrome der unteren Extremität wie folgt differenzieren:

  1. Lokale Schmerzen in einzelnen Strukturen
  2. Gelenkschmerzen
  3. Gefäßbedingte Schmerzen
  4. Radikulärsyndrome, Pseudoradikulärsyndrome
  5. Neuralgien/Kompressionssyndrome
  6. Neuropathie/neuropathisch getriggerte Schmerzphänomene
  7. Triggerpunkte
  8. Fehlbildungsbedingte Schmerzen

 

Zu 1.: Lokale nozizeptive Schmerzen werden in Knochen (Periost) Muskeln, Faszien, Sehnen, Bändern, subkutanem Bindegewebe und in der Haut hervorgerufen, denn in allen Strukturen finden sich Nozizeptoren (in Form von Nervenendigungen). Neuralgische Schmerzen sind ursächlich durch die entsprechenden Nervenverläufe bedingt.

Muskeln bilden durch Fernwirkung absteigende Ursache-Folge-Ketten im Bereich der unteren Extremität

 

  1. Beispiel:
    Primäre Läsion - Ilium anterior
         ↓
    Dehnung des M. semitendinosus
         ↓
    Tendinitis des Pes anserinus
         ↓
    Dehnung des M. semimembranosus
         ↓
    Zug des Meniscus medialis nach posterior + permanente Dehnung der Kniegelenkkapsel

    Eine Erklärung dafür ist der Schmerz bei gleichzeitiger Flexion in der Hüfte und Extension im Kniegelenk (Treten gegen den Ball).
  2. Beispiel :
    Primäre Läsion - Ilium anterior
         ↓
    Dehnung des Musculus biceps femoris
         ↓
    Translation des Caput fibulae im Verhältnis zur Tibia nach kranial
         ↓
    Irritation des N. peroneus und Zug auf die Membrana interossea (Paraesthesien im Bereich des N. peroneus communis)
         ↓
    Dehnung des M. peroneus longus – Innenrotationsläsion des Os cuboideum
         ↓
    Dehnung des M. tibialis posterior- Außenrotationsläsion des Os naviculare
  3. Beispiel :
    Primäre Läsion - Ilium anterior
         ↓
    Innenrotationsschädigung der Hüfte über Mm. gluteus medius und minimus
         ↓
    Im Stand wird die gesamte Innenrotation der Hüfte auf die gesamte untere Extremität übertragen
         ↓
    Caput tali folgt nach anterior-intern-inferior
         ↓
    Abflachung des medialen Fußgewölbes

Zahlreiche Nerven (z. B. cutaneus femoralis, N. genitofemoralis, N. femoralis, Nn. peroneus profundus und peroneus superficialis) bilden funktionelle Entrepmants beim Durchtritt durch Faszien. Sie sind gleichzeitig Triggerpunkte und gestatten Funktionszusammenhänge im Bewegungssystem und mit anderen Nachbarschaftsstrukturen.
Beispiel: N. cutaneus femoris lateralis – Coecum, Beckenboden – Tractus iliotibialis; bei therapieresistenten Schmerzphänomenen immer an fortgeleitete viszerale Affektionen denken (z. B. Sigmadivertikulitis – neurolymphatische Irrationen über den Tractus iliotibialis (rechts Coecum – Colon ascendens; links Sigma – Colon descendens)

Zu 2.: Alle Gelenke der unteren Extremität haben in der Gelenkkapsel, an Verstärkungs- und Führungsbändern Nozizeptoren. Im Kniegelenk finden sich selbst an den Menisken und der Bandaufhängung des mesnikus diese Rezeptoren.

Auch Verletzungen, Entzündungsvorgänge und Degenerationserscheinungen des Knorpels, die zu Arthrosen tendieren, verursachen Schmerzen.
Wenn Nerven über dem Gelenkspalt hinwegziehen, können auch entzündliche Veränderungen des Bandapparates oder eine Instabilität des Gelenkes zu Nervenreizungen führen, welche in der Regel über den N. ischiadicus in das Bein ausstrahlen (z. B. Sakroiliakalgelenk).

Zu 3.: Zu den gefäßbedingten Schmerzen gehört der große Formenkreis der Durchblutungsstörungen, z. B. Akrozyanosen. Ursächlich können Artherosklerose sowie Irritationen des vegetativen Nervensystems genannt werden. Ischämische Kontrakturen treten nach Kompartment-Syndromen auf. Sensibilitätsverluste führen dabei zu Gangkontrollen.

Zu 4.: Radikulärsyndrome haben mannigfaltig Ursachen an den Wurzeln der Nerven des Plexus lumbalis und des Plexus sacralis. Neben Parästhesien, Sensibilitätsstörungen, Lähmungen, vegetativ-trophischen Störungen in den entsprechenden Dermatomen finden wir auch (neuralgische) Schmerzen. Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine idiopathische entzündliche Polyradikuloneuropathie.

Zu 5.: Neuralgien und Kompressionssyndrome finden wir in räumlich engen Strukturen (N. obturatorius-Kompression, Tarsaltunnel–Syndrom, mit Kompression der Äste des N. tibialis, siehe Vortrag Koppe). Bei der N. obturatorius-Kompression können beispielsweise Schmerzen bis in den medialen Kniebereich ausstrahlen (Romberg-Kniephänomen) und zu Fehldiagnosen am Knie führen. Beim Kompartment (Logen)-Syndrom am Unterschenkel kommt es in den osteofibrösen Räumen zu mechanischem Druckanstieg, Ischämien und Nervenkompressionen (z. B. Tibialis anterior-Syndrom; tiefes, hinteres Logensyndrom).

Zu 6.: Beim Formenkreis der Neuropathien besitzt das Mesenchym eine zentrale Rolle, welches nutritive, oxidative und metabolische Beeinträchtigung erfahren kann.

Zu 7.: Triggerpunkte (Trigger points) – "Reizpunkte", deren Berührung Schmerzen auslösen, sind Gegenstand der seminaristischen Tätigkeit unseres Curriculums. Es handelt sich zumeist um kleine Areale erhöhter Reizbarkeit in einem Muskel oder Faszienbereich, welcher für den Schmerz kennzeichnend ist. Nach den Prinzipien von G. Simons und J. Travell gibt es verschiedene Triggerpunkte (siehe dort).

Zu 8.: Fehlbildungen. Angeborene Fehlbildungen (Knochenaplasien, Klumpfuß, Zehenverschmelzungen) können durchaus zur Veränderung der embryonal angelegten Innovationsmuster führen. Dies sind allerdings seltene Fälle.

Literatur

  1. Benninghoff, A., Drenckhahn, D. (Hrsg.): Anatomie. Makroskopische Anatomie, Histologie, Embryologie, Zellbiologie. 16. Aufl., Bd. 2. Urban & Fischer, München, Jena, 2003
  2. Fanghänel, J., Pera, F., Anderhuber, F., Nitsch, R. (Hrsg.): Waldeyer. Anatomie des Menschen. 17. Aufl. W. de Gruyter, Berlin, New York 2003
  3. Lippert, H.: Lehrbuch Anatomie. 6. Aufl., Urban & Fischer, München, Jena 2003
  4. Zilch, H., Weber, U.: Lehrbuch Orthopädie mit Repetitorium. W. de Gruyter, Berlin, New York 1989