Schmerzphänomene des Kopfes aus morphologischer Sicht

J. Fanghänel (Greifswald) und U. Preuße (Essen)

Der Schädel/Kopf mit allen seinen Spezifika und seinen vielfältigen Beziehungen ist die komplizierteste Struktur des Organismus. Die zahlreichen anatomischen Gegebenheiten bieten auch die verschiedenen Ursachengefüge für den Schmerz, der nozizeptiv aber auch neuralgischer Genese sein kann.

  1. Strukturen des Schädelwachstums
    Die Suturen des Schädels sind für das sog. suturale (kompensatorische, sekundäre) Wachstum verantwortlich. Bis zu ihrer endgültigen Verknöcherung sind sie auch nozizeptiv wirksam. Die basiskranialen Synchondrosen sind die primären Wachsumszentren. Als letzte dieser Strukturen verknöchert die Synchondrosis sphenooccipitalis, welche eine große Bedeutung für die Duraanheftung und letztlich auch für die Beeinflussung der Hypophyse über das Diaphragma sellae zeigt.
  2. Dura mater und Schädelknochen bilden eine Einheit durch einen gemeinsam, sich ergänzenden funktionellen Bau. In ihren Duplikaturen befinden sich die Sinus durae matris. Entsprechende Stauungen beeinflussen die Nozizeptoren in der Dura. Aber auch Zug der Dura hat dieselbe Wirkung. Duraschmerz ist Kopfschmerz! (Das Gehirn hat keine Schmerzrezeptoren.) Der Migränekopfschmerz kommt z. B. durch eine (nerval bedingte) Durchblutungsstörung der Hirnhäute zustande. Hier lösen sich Kontraktion und Dilaktion der Gefäße ab.
  3. Aufgrund der zahlreichen Foramina und Fissuren ergeben sich vielfältige Engpasssyndrome der Hirnnerven mit entsprechenden Ausfällen und Schmerzsensationen (z. B. Kompression im Foramen jugulare). Aber auch der Sinus cavernosus kann aufgrund der engen topographischen Beziehungen Engpasssyndrome unterschiedlicher Genese (Kavernosussyndrom) für die in die Augenhöhle ziehende Hirnnerven III, IV, V1, VI hervorrufen. Der Funktionsverlust der Hirnnerven III, IV, V1, VI weist auf eine Schädigung im Bereich der Fissura orbitalis superior hin. Zu beengte abgeschlossene Räume, z. B. die Fossa pterygopalatina können auch Anlass zu entsprechenden Ausfällen bzw. Schädigungen von Ganglien sein.
  4. Pulsationen von Arterien beeinflussen die benachbarten Strukturen, z. B. die Aa. meningeales die Dura mater und die A. cerebellaris superior das Ganglion trigeminale Gasseri. Letzterer Sachverhalt ist die Hauptursache für die Trigeminusneuralgie. Ektatische Venenkomplexe können durch Schwellungen Drucksymptome vortäuschen, z. B. am sog. Risikoareal am Zungenrand. Komprimierende Gefäßschlingen verursachen an Hirnnerven Neuralgien, z. B. Glossopharyngeusneuralgie.
  5. Prominente Strukturen, wie Processus und Cristae sind die Ursache für Kompressionen, z. B. das Styloidsyndrom bei zu lang ausgebildetem Proc. styloideus.
  6. Frakturen können zu neurologischen Ausfällen entsprechender Hirnnerven führen. Für ihre Beurteilung ist jedoch eine genaue Kenntnis der Nervendurchtrittsstellen am Schädel erforderlich.
  7. Innervationsstörungen (tonisch, klonisch, tremolierend oder myokloniform) führen zu Fehlhaltungen, wie die Mm. sternocleidomastoideus und trapezius zum Torticollis mit allen seinen strukturellen und funktionellen Folgen.
  8. Muskelketten können Fernwirkungen bewirken. So wird das Kiefergelenk beeinflusst durch die Muskelkette Bauch-, Brust- und Halsmuskeln.
  9. Der Bandapparat am Kopf/Schädel kann vorzeitig verknöchern. So entsteht z. B. bei einseitiger Verknöcherung des Lig. stylohyoideum das Stylocerato-hyoidale Syndrom mit entsprechenden neuralgiformen Beschwerden. Ursächlich sind hier raumfordernde Prozesse und Irritationen von Nerven zu nennen.