Die Anatomie des Schultergelenks und seine räumlichen Nachbarschaftsbeziehungen

Th. Koppe
Institut für Anatomie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die Schulter verbindet den Rumpf mit der oberen Extremität. Während die obere Extremität bei Quadrupeden und den meisten anthropoiden Affen der Abstützung des Rumpfes sowie der Fortbewegung dient, führte die Vertikalisation beim Menschen nicht nur zu einem Freiwerden der Arme, sondern auch zu funktionellen Veränderungen. Die veränderte Funktion der oberen Extremität beim Menschen zeigt sich u.a. in einer außerordentlich hohen Beweglichkeit der Schulter. Tatsächlich gilt das Schultergelenk als das beweglichste Gelenk des Menschen.

Reine Bewegungen im Schultergelenk sind eher selten. Vielmehr ist die Schulterbewegung als ein komplexer Vorgang anzusehen, an der folgende Komponenten ursächlich mitbeteiligt sind: sternoclavikuläre, thoracoskapuläre, acromioclaviculare und glenohumerale Komponenten (Dolanc et al., 1975). Nicht zuletzt kommt den weitläufigen Schleimbeuteln zwischen Schulterdach und der Rotatorenmanschette im Sinne von sogenannten Nebengelenken eine große Bedeutung für die freie Beweglichkeit der Schulter zu (Tillmann und Töndury, 1987).

Die freie Beweglichkeit im Schultergelenk ist nur durch das Zusammenspiel aller Teile möglich, wobei die Articulationes acromioclaviculares et sternoclaviculares eine Schlüsselrolle einnehmen. Der größte Grad der Beweglichkeit besteht zwischen der Scapula und dem Thorax. Diese Verbindung unterstützt maßgeblich die Articulatio humeri bei fast allen Bewegungen mit Ausnahme der Rotation. Unter physiologischen Bedingungen ermöglicht die thoracoskapuläre Verbindung z.B. die Bewegung des Arms aus einer horizontalen Position in eine vertikale. Bedingt durch diese beachtliche Beweglichkeit der Schulter ist es mitunter schwierig den eigentlichen Grad der Beweglichkeit in der Articulatio humeri herauszufiltern. Das ist vermutlich auch ein Grund dafür, daß Verwachsungen wie z.B. Ankylosen des Schultergelenks vergleichsweise geringe Bewegungseinschränkungen hervorrufen. Interessant erscheint die Tatsache, daß das Auftreten eines Os acromiale oder Os coracoidale sowie das Fehlen des Humeruskopfes meist ohne nennenswerte funktionellen Folgen bleibt.

Die artikulierenden Knochenelemente der Articulatio humeri zeichnen sich durch eine beachtliche Größendiskrepanz aus. Obgleich das Labrum glenoidale die Fossa glenoidalis vergrößert und damit die Inkongruenzen zwischen den artikulierenden Elementen z. T .ausgleicht, unterstützt es die mechanische Stabilität des Schultergelenks kaum. Mit Ausnahme des Ligamentum coracohumerale sind im Bereich der Gelenkkapsel kaum ligamentäre Strukturen nachzuweisen, so daß die mechanische Instabilität des Schultergelenks durch die Gelenkkapsel nicht ausgeglichen werden kann. Die Stabilität des Schultergelenks wird schließlich durch die Aktivität der Rotatorenmanschette sowie des langen Bizepskopfes gewährleistet, deren Sehnen eng mit der Gelenkkapsel verbunden sind. Die Muskeln der Rotatorenmanschette: M. supraspinatus, M. infraspinatus, M. teres minor sowie M. subscapularis weisen mitunter Variationen wie z.B. zusätzliche Muskel- und Sehnenzüge auf, die funktionelle Folgen haben können.

Von praktischer Bedeutung sind die Faszienverhältnisse im Bereich der Schulter. Die Fascia subdeltoidea bildet eine kräftige Sehnenplatte um die Muskeln der Rotatorenmanschette und das obere Humerusende. Kranial hat sie Anschluß an die Fascia supraspinata sowie an das Ligamentum coracoacromiale. Verbindungen mit der Spina scapulae, dem Acromion sowie dem Processus coracoideus vervollständigen das Bild einer ausgedehnten Faszie, die als periartikuläres Bindegewebe den Muskel-Sehnenapparat des Schultergelenks umgibt.

Abgesehen von lokalen Schulterschmerzen sind ausstrahlende Schmerzen in der Schulter von praktischer Bedeutung. Die Ursachen solcher Schmerzen sind sehr vielfältig. Sie reichen vom Myokardinfarkt, pathologischen Veränderungen in der Halswirbelsäule bis hin zu Erkrankungen der Ellenbogenregion. Da die Schulter über kräftige Muskelschlingen am Rumpf gefestigt ist, können sich Schmerzen vom Rumpf sehr leicht in der Schulter manifestieren. Die Schulter und die gesamte obere Extremität werden von Ästen des Plexus brachialis versorgt. Obgleich der Plexus brachialis im klassischen Fall von den ventralen Ästen der Spinalnerven C5- Th1 gebildet wird, sind Variationen unter Einbeziehung höher- oder tieferliegender Segmente nicht selten. Abnorme Nervenverläufe bzw. Kompressionssyndrome wie das Thoracic-Outlet-Syndrom können ebenfalls Anlaß für Schmerzen im Schultergelenk sein .

Der vorliegende Beitrag stellt sich die Aufgabe die Schulterregion aus klinisch- anatomischer Sicht darzustellen. Faszienverhältnisse, Schleimbeutel sowie die Lokalisation der Gefäß-Nerven-Straßen und deren Variationen werden dabei besondere Beachtung finden.

 

Literatur
Dolanc B, Gächter A, Dürig M (1975) Der Schulterschmerz aus orthopädischer Sicht. Theor. Umschau 32: 380-386
Tillmann B, Töndury G (1987) Rauber I Kopsch. Anatomie des Menschen. Band I. Bewegungsapparat. Thieme, Stuttgart.