Das Kiefergelenk - nur die Spielwiese der Kieferorthopäden?

Georg Meyer, Greifswald

 

Die Bewegungsabläufe des menschlichen Unterkiefers funktionieren nach den Prinzipien von Regelkreisen. Periphere Rezeptoren in Zähnen und Zahn-halteapparat, den Kiefergelenken sowie der Muskulatur liefern über afferente Nervenbahnen Informationen an das zentrale Nervensystem (Sensorik, Input).
Beim ungestörten Kauorgan werden diese Informationen in koordinierte Steuersignale umgesetzt und über efferente Nervenbahnen aktivieren sie entsprechende Anteile der Muskulatur (Motorik, Output). Die daraus folgenden harmonischen Unterkieferbewegungen beim Kauen, Schlucken und Sprechen sind durch die Gleichförmigkeit der neuromuskulären Aktivitäten und der beteiligten Hartgewebe gekennzeichnet.

Dementsprechend zeigen auch die Bewegungsbahnen der Kiefergelenke unter physiologischen Bedingungen sogar interindividuell sehr ähnliche kontinuierliche Verläufe. Im Gegensatz zu anderen Körpergelenken können die paarig angelegten und miteinander verbundenen Kiefergelenke verhältnismäßig große Gleitbewegungen in alle Raumrichtungen durchführen. Deren dynamische Registrierung über die Scharnierachse des Unterkiefers weist z.B. in der Sagittal/Vertikal-Ebene Krümmungsradien auf, die einer geringfügig vergrößerten Darstellung der kaudalen Grenzfläche des Tuberculum articulare entsprechen.

Im funktionsgestörten Kauorgan kommt es zu einer Inkoordination der Muskelaktivitäten, was zur Traumatisierung und Degeneration von Hartgeweben insbesondere im Kiefergelenksbereich führen kann (Myo- und/oder Arthropathie). Hieraus resultieren ungleichförmige Unterkieferbewegungen und damit vom normalen Verlauf abweichende, veränderte Gelenkbahnen, die häufig bestimmten Krankheitsbildern zugeordnet werden können.

Da die Symptome bei gestörter Kiefergelenksfunktion vielfältig sein können, ist die klinische Diagnostik oft schwierig. Sicher scheint zu sein, daß in der initialen Traumatisierungsphase der Kiefergelenke lokalisierte Mikroläsionen auftreten, die zeitweise, z.B. in Streßphasen, Knacken und Schmerzen verursachen können, nach entsprechender Therapie aber reversibel sind. Bei länger anhaltenden und/oder stärkeren Traumatisierungen der Gelenkstrukturen kommt es - vor allem bei Kompressionen - zu Diskusdeformationen (Abflachungen, Wellenformen, Risse, Perforationen u.a.), die irreversibel sind. Je nach Kraftvektor der Fehlbelastungen kann es zeitweise oder auch dauerhaft zu Diskusverlagerungen kommen. Letztendlich kann eine andauernde Traumatisierung der Kiefergelenke zur Arthropathia deformans führen, die durch Um- und Abbauvorgänge an den knöchernen Geweben gekennzeichnet ist.

Neben der klinisch-manuellen Befundung haben gelenkbezügliche Registrierungen der Unterkieferbewegungen für diagnostisch-therapeutische Zwecke eine zentrale Bedeutung, insbesondere bei Verdacht auf Arthropathie. Für die Darstellung dieser im geschädigten Kiefergelenk sehr komplexen dreidimensionalen Bewegungsabläufe sind elektronische Registrierverfahren im Sinne einer erweiterten instrumentellen Gelenkdiagnostik ganz besonders geeignet. In Zukunft werden dynamische bildgebende Verfahren (z.B. MRT) eine detaillierte Kiefergelenksdiagnostik ermöglichen.

 

Funktionsdiagnostische Schritte am Patienten:
1. a) Klinisch manuelle Funktionsdiagnostik (Krogh-Poulsen)
b) Klinische Okklusionsdiagnostik (Lupenbrille, Farbfolien)
2. Instrumentelle Funktionsdiagnostik bei Verdacht auf Arthropathie:
a) Dynamische Gelenkregistrierung (Achsiographie, u.a.)
b) Bildgebende Verfahren (dyn. MRT, CT)
3. Instrumentelle Okklusionsdiagnostik (Artikulator)
bei Verdacht auf Interferenzen zwischen Kauflächen und/oder Kiefergelenkfunktion

 

Stadien der Kiefergelenksschädigung
1. Mikrotrauma (reversibel)
2. Makrotrauma (teilweise irreversibel)
a) Diskusverlagerung mit Reposition
b) Diskusverlagerung ohne Reposition
c) Arthropathia deformans